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Alt 03.10.2008, 15:30
mozilla mozilla ist offline
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Registriert seit: 03.10.2008
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Standard Trauer auch nach über 1,5 Jahren

Hallo zusammen,

dies ist das erste Mal, dass ich seit dem Tod meiner Mutter im Februar 2007 etwas in ein Forum schreibe. Sie starb im Alter von 71 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs innerhalb von fünf Wochen nach der Einlieferung ins Krankenhaus und vier Wochen nach der Diagnose. Ich lebe aus beruflichen Gründen im Ausland und wurde telefonisch darüber informiert, dass sie nach der schweren OP Wasser in die Lunge bekommen hätte und nicht mehr aufwachen würde. Man hatte sie da schon in ein künstliches Koma versetzt, um ihr die großen Schmerzen zu ersparen, die sie in der letzten Woche ihres Lebens nach der OP gehabt hatte. Es hieß, sie würde noch am selben Tag sterben, ich buchte also einen Flug nach Hause in dem Bewusstsein, sie nie wieder zu sehen.

Der Flug war der pure Horror, still sitzen, nichts tun können als die Bilder im Kopf immer wieder zu sehen... Ich stand es durch, irgendwie.

Mein Bruder holte mich am Flughafen ab, wir fuhren gemeinsam nach Hause zu meinem Vater, der die ganze Zeit bei meiner Mutter gewesen war. Er selbst sah völlig krank aus, abgezehrt, grau im Gesicht, resigniert.

Meine Mutter lebte noch, immer noch im Koma. Meine Familie versuchte mich dazu zu bringen, nicht ins Krankenhaus zu fahren. Ich war immer das "Küken" der Familie, sie wollten mich vor dem Anblick bewahren, mich von dem Schrecken fernhalten, auch wenn ich mit meinen 35 Jahren nun nicht mehr ganz der Vorstellung eines Kükens entspreche. Aber ich wusste, dass ich es mir nie verzeihen würde, wenn ich nicht hinfahren würde, nun, wo ich tatsächlich wider alle Erwartungen doch noch die Gelegenheit dazu hatte, zu ihr zu gehen.

Wir sind keine gläubige Familie, weder im christlichen noch sonstigen Sinne. Wir glauben nicht an ein Leben nach dem Tod oder an den Himmel für die verstorbenen Seelen. Das konnte ich mir auch in so einer Situation nicht einreden. Aber ich glaube an die Liebe, insbesondere die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern. Als ich das letzte Mal mit meiner Mutter telefoniert hatte, einen Tag vor ihrer Operation, hatte ich ihr versprochen, sie brauche nur ein Wort zu sagen, und ich käme sofort zu ihr. Ich hatte mit ihr ausgemacht, dass ich meinen Urlaub erst mal aufhebe, um ihr nach der Operation bei der Genesung unterstützend zur Seite stehen zu können. Wir alle hatten ja gedacht, sie kommt wieder nach Hause und wird gesund. Ich wusste also, dass meine Mutter mit dem Gedanken, dass ich zu ihr käme, starb. Und ich war mir innerlich sicher, dass das auch der Grund dafür war, dass sie immer noch lebte, obwohl alle gesagt hatten, sie würde schon früher sterben.

Nach einem verzweifelten Kampf mit meinem Inneren erklärte ich meiner Familie, dass ich ins Krankenhaus fahren müsste, sie akzeptierten es, wenn auch unwillig. Sie waren überzeugt davon, ich täte etwas Falsches. Ich habe furchtbar geweint, während ich mich dazu durchrang, es war die schwerste und richtigste Entscheidung meines Lebens.

Mein Vater fuhr mich ins Krankenhaus, ging mit mir hinein. Sie lag auf der Intensivstation im Sterbezimmer, leise klassische Musik lief, etwas, was mir irgendwie gut gefiel, denn es lenkte von dem Summen und Piepen all der Maschinen ab. Ich streichelte meine Mutter, redete mit ihr, sagte ihr, dass sie loslassen, sich nicht weiter quälen solle. Mein Vater und ich, wir kämen schon klar, ich würde mich um ihn kümmern. Ihr war natürlich keine Reaktion anzumerken, aber ich war mir sicher, dass sie mich fühlte.

Wir fuhren wieder nach Hause, ich merkte, dass mein Vater nicht bleiben konnte, um ihr beim Sterben zuzusehen. Er hatte seine Kräfte aufgebraucht, ich musste nun auch an ihn denken.

Nach einer Stunde rief das Krankenhaus an, meine Mutter war gegangen. Sie hatte auf mich gewartet und nun konnte sie loslassen.

Ich weinte nicht mehr, ich war sogar irgendwie erleichtert, denn ihre Qual war nun endlich vorüber. Am gleichen Abend träumte ich kurz nach dem Einschlafen von meiner Mutter. Sie stand plötzlich in meinem alten Kinderzimmer (in dem ich jetzt gerade schlief) vor mir, in ihrem Nachthemd, wie sie es immer getragen hatte, am Fußende meines Bettes, und winkte mir zu. Ich meine mich zu erinnern, dass sie sagte, es ginge ihr gut, ich solle mir keine Sorgen machen. Das ganze war natürlich nur ein Traum, aber es hatte etwas so Beruhigendes für mich, es war eine wunderschöne Erfahrung, eine Erinnerung, an der ich festhalte und von der ich mir seitdem wünsche, sie noch einmal zu sehen.

Ich war für meinen Vater da, blieb zwei Wochen in Deutschland, wir standen die Beerdigung durch. Ich musste funktionieren. Mein Vater tat sich in seiner Trauer sehr schwer, bekam die merkwürdige Art, plötzlich die schlechten Seiten meiner Mutter vor mir auszubreiten. Dinge, die ich nicht wissen wollte, die, wenn überhaupt, nur ihn und sie etwas angingen, denn ihre Ehe war nichts, was ich als ihre Tochter analysieren wollte. Ich weiß, dass dies die Art meines Vaters war, mit ihrem Tod umzugehen, er wollte wütend auf sie sein, um sie leichter loslassen zu können. Ich selbst konnte nur sehr schlecht damit umgehen, wenn er über sie schimpfte. Ich wollte nichts Negatives über meine Mutter hören und musste mich sehr zusammenreißen, um "erwachsen" zu reagieren.

Als ich nach zwei Wochen wieder zurück zu mir nach Hause flog, hatte ich das Gefühl, meinen Vater zu verraten, ihn im Stich zu lassen. Aber sollte ich nun meinen Beruf aufgeben und zu ihm ziehen? Ich hatte in den vergangenen Wochen seit dem Tod meiner Mutter quasi ihre Rolle im Haushalt meines Vaters übernommen. Hatte gekocht, geputzt, war mit ihm einkaufen gegangen. Wir sind keine Familie, die besonders häufig über ihre Gefühle miteinander redet, wir scheinen das einfach nicht zu können. Es wurde also meistens gar nicht darüber geredet, wie es uns ging oder was wir empfanden. Meine Mutter erwähnte keiner von uns, aus Angst, dies würde den anderen zum Weinen bringen. Ich machte mir Sorgen um meinen Vater, einem Mann aus einer Generation, als Männer noch nicht wussten, wie man sich selbst versorgt. Meine Mutter war sein Lebensmittelpunkt gewesen und nun saß er allein zu Hause. Aber ich war andererseits auch völlig erschöpft, brauchte dringend Ruhe und Zeit für mich selbst. Zeit, über mich und meine Gefühle nachzudenken.

Nun war ich allein bei mir zu Hause, ging wieder arbeiten. Ich hatte Angst vor dem ersten Arbeitstag, vor den Fragen. Es war auch genauso furchtbar, wie ich es erwartet hatte. Ich blieb drei Tage dort, dann nahm ich mir eine Woche frei, verkroch mich zu Hause. Ich erinnere mich noch, dass ich immer das Gefühl hatte, alles sei so profan, die Probleme der anderen so albern und unwichtig. Und ständig hatte ich den Gedanken "wozu überhaupt das alles, wenn wir doch eh alle irgendwann sterben? Warum soll ich mich anstrengen?" Ich erinnere mich auch an die Momente, wenn ich zum Supermarkt ging, um mir etwas zu essen zu besorgen, zumindest das musste ja sein (ich bin Single). Ich lief durch den Laden wie Falschgeld, sehnte mich wieder zurück in meine sichere Wohnung, kaufte nur das nötigste und verschwand so schnell ich konnte wieder.

Nur in meiner Wohnung fühlte ich mich sicher, eine Freundin kam häufig abends zu mir, sie hatte mir auch schon sehr geholfen, als meine Mutter noch im Krankenhaus war. Sie war einfach nur da, redete nicht auf mich ein, sondern war anwesend. Ich fing an, sehr viel zu rauchen, ich war nervös, konnte nicht unter Menschen sein. Und dann die übliche Frage nach dem Warum? Das Universum hatte mich betrogen, das Leben ist völlig unnütz. Genauso fühlte ich mich.

Wenn ich Bekannte oder Freunde traf, wurde mir immer nur die Frage gestellt, wie mein Vater denn nun klar käme. Mich verletzte das, keinen schien zu interessieren, wie ICH damit klar kam. Nur weil ich nicht mehr zu Hause wohnte, hieß das ja nicht, dass ich meine Mutter nicht vermissen würde, aber das schien niemand wissen zu wollen. Meine Mutter war meine beste Freundin gewesen, wenn wir telefonierten, konnte das schon mal ein paar Stunden dauern. Sie war ein Teil meines Lebens, meiner Seele.

Irgendwann wurde es besser, ich konnte mir Fotos von meiner Mutter ansehen, freute mich, wenn sie in meinen Träumen eine Rolle spielte - manchmal nur eine kleine Nebenrolle, aber sie war dabei gewesen -, ich trug ihre Kleidung und fühlte mich ihr dadurch sehr nah, ich redete gern über sie. Erzählte ständig irgendwem, was meine Mutter in der und der Situation gesagt oder getan hätte oder gab Anekdoten zum Besten. Ich merkte aber auch, dass ich die Leute damit verschreckte, sie wussten nichts darauf zu sagen, wechselten schnell das Thema. Sie wollten nicht mit meiner Trauer konfrontiert werden. Und heute, wenn ich sie erwähne, merke ich, dass die Leute innerlich die Augen verdrehen, "nun kommt das schon wieder" denken. Aber es ist mir egal, ich muss meine Mutter erwähnen, sonst habe ich Angst, dass ich sie vergessen könnte.

Und so verging die Zeit, meine Trauergefühle nahmen ab, ich lebte weiter. Ich dachte eigentlich, ich hätte die Trauer überstanden. Und nun, 1,5 Jahre später, sitze ich hier und schreibe dies hier aus gutem Grund: Ich hoffe, dass es mir hilft, endlich mal darüber zu schreiben, reden geht nicht, denn es gibt niemanden, der es wirklich hören will, nicht nach all dieser Zeit.

Ich habe mich in dem vergangenen Jahr in der Arbeit vergraben, nicht wirklich aus eigenem Antrieb, sondern weil durch äußere Umstände sehr viel zu tun war. Es war eine nicht unwillkommene Ablenkung für mich. Nun, nach ca 10 Monaten durchpowern, habe ich mir eine Woche Urlaub genommen. Ich habe eine Katze, da ich niemanden fand, der sich in der Zeit um ihn kümmern konnte, verbringe ich den Urlaub zu Hause allein. Ich hatte mir vorgenommen, es mir richtig schön zu machen, den Herbst zu genießen (meine liebste Jahreszeit) und mich ein wenig zu entspannen.

Vorgestern wollte ich in ein Einkaufszentrum fahren, ein bisschen shoppen, einen leckeren Tee trinken, was essen. Einen netten Tag eben. Doch schon auf der Fahrt dorthin fiel mir auf einmal ein, dass ich das letzte Mal, als ich in einem Oktober Urlaub hatte, den ich daheim verbrachte, Besuch von meiner Mutter hatte. Sie war mit in eben jenes Shopping Center gefahren, wir hatten eine schöne Zeit. Sie hatte mich auf all meinen Auslandsposten besucht und ihre Besuche bei mir waren immer die schönsten Zeiten in meinem Leben. Sie liebte es, sich von mir alles zeigen zu lassen, machte alles mit, lebte richtig auf.

Und vorgestern, da sah ich sie quasi an jeder Ecke, jede Bank, die ich ansah, da hatte sie mal drauf gesessen, in jedem Laden haben wir uns gemeinsam beraten, was wir kaufen wollten, in dem Restaurant hatte sie damals ein Chicken Sandwich mit Fritten gegessen... Ich wurde trauriger und trauriger, am Ende hätte ich heulen können, ich war wütend auf mich selbst, ich hatte es doch schon geschafft, an sie zu denken und mich dabei dankbar an schöne Zeiten erinnern zu können. Und auf einmal bekomme ich das heulende Elend, ohne Vorwarnung, einfach so. Sie fehlt mir mehr denn je. Seitdem fühle ich mich wie ein Mensch, den man wie eine Spieluhr aufgezogen hat. Ich tapere durchs Leben, funktioniere, mache, was gemacht werden muss, aber ich spüre zur Zeit keinen Funken Lebensfreude. Am Montag ist mein Kurzurlaub vorbei und ich habe das Gefühl, von diesem Urlaub nichts zu haben als erneut in eine tiefe Trauer gefallen zu sein. Wenn ich wieder im Büro bin, werde ich mit den Leuten umgehen müssen, die meine Kollegen sind, sie werden keine Ahnung von meinem Inneren haben, wie ich mich fühle, und warum. Ich hab ja selbst keine Ahnung. Ich werde wieder funktionieren müssen, so tun, als sei alles gut.

Es verwirrt mich, dass ich nach so langer Zeit wieder da bin, wo ich aufgehört hatte. Vielleicht gibt es noch jemanden, dem es ähnlich geht? Der mir sagen kann, dass ich nicht verrückt werde?

Am liebsten würde ich mich erneut zu Hause verkriechen, nichts tun, damit meine ich gar nichts. Wo ist der Spaß am Leben geblieben, wieso krieg ich die Kurve nicht? Muss ich noch länger warten? Werde ich nie aufhören, durch diese dunklen Täler zu gehen?

Ich habe Angst, dass ich nie wieder so lebensfroh sein werde, wie ich es vor dem Tod meiner geliebten Mutter war.

M.
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