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Alt 18.06.2004, 18:14
Eva-KK Eva-KK ist offline
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Standard Presseartikel zum NHL

Grenzgänger der Medizin
Früher verlacht, nun anerkannt: Forscher erkunden das Zusammenspiel von Psyche, Nerven und Immunsystem
Aus BerlinOnline vom 15. Juni 2004
Nachzulesen unter http://www.berlinonline.de/berliner-...ft/349677.html
Sabine Behrends

Wann immer das Immunsystem aktiv wird, ist die Psyche mit im Spiel - davon ist Ron Glaser überzeugt. Der an der Ohio State University in Columbus forschende Immunologe ist einer der prominentesten Verfechter der Mind-Body-Hypothese, nach der körperliche und psychische Vorgänge eng miteinander verwoben sind. In den letzten Jahren wurde eine Vielzahl von Studien veröffentlicht, die diese Hypothese untermauern.
Auf der Jahrestagung der internationalen Psycho-neuro-immunologischen Forschungsgesellschaft (Pnirs), deren Präsident Ron Glaser ist, wurden jetzt weitere Forschungsergebnisse vorgestellt. Sie belegen zum Beispiel, dass die Aktivität des Immunsystems und des Hormon produzierenden, so genannten endokrinen Systems sich unter Stress verändert.
Kann Stress also krank machen? Offenbar ja. So stellte Glaser auf der Tagung im Schwarzwaldkurort Titisee neue Daten vor, denen zufolge das Immunsystem in Stresssituationen weniger gut in der Lage ist, Virusinfektionen unter Kontrolle zu halten. Dadurch vermehren sich nicht nur Herpesviren schneller, auch Epstein-Barr-Viren (EBV), breiten sich rascher aus. Die aber sind viel gefährlicher als Herpersviren, die Betroffene bei Stress oder Schlafmangel höchstens mit Lippenbläschen plagen. EBV-Viren hingegen werden mit dem Chronischen Erschöpfungssyndrom und bestimmten Krebsarten, etwa dem Hodgkin-Lymphom, in Verbindung gebracht.
Auch bei der Wundheilung, beim Altersdiabetes, bei der Multiplen Sklerose, bei krankhaftem Übergewicht, Allergien, Fehlgeburten und der Gürtelrose dürfte die Psyche eine Rolle spielen. Darauf weisen weitere, auf der Titiseer Tagung vorgestellte Studien hin.
Umgekehrt wirkt das Krankheitsgeschehen im Körper auf die Psyche zurück. So lösen bestimmte Botenstoffe des Immunsystems Stimmungsschwankungen und Gedächtnisstörungen aus. Und chronische Entzündungen wie beispielsweise rheumatische Erkrankungen können die Betroffenen müde und depressiv machen.
Viele Erkenntnisse, die die Psycho-Neuro-Immunologen in den letzten zwanzig Jahren gewonnen haben, stammen aus Tierexperimenten. Künftig aber werde man vermehrt Studien an Patienten vornehmen, sagt Rainer Straub, der die Titiseer Konferenz organisierte. Straub - er ist Professor für Experimentelle Medizin an der Universität Regensburg - sprach gar von einem neuen Aufbruch seiner Disziplin.
An Patienten mit entzündlichem Gelenkrheuma (rheumatoider Arthritis) untersucht Rainer Straub zusammen mit seinem Team die Verbindungen zwischen Nervensystem, Hormon- und Immunsystem. "Aus Studien weiß man, dass die Antikörper, die gegen eigene Gewebestrukturen gerichtet sind und die letztlich zu rheumatischen Beschwerden führen, bereits mehr als zehn Jahre vor dem ersten Krankheitsschub vorhanden sein können", sagt der Regensburger Forscher. Offenbar schwanke der Patient lange Zeit zwischen Krankheitsausbruch und Gesundheit. In dieser Phase, davon sind Straub und seine Kollegen überzeugt, geben psycho-neuro-immunologische Faktoren den Ausschlag.
Bei eigenen Untersuchungen konnten die Regensburger Mediziner nachweisen, dass Entzündungsherde sich in vielfacher Hinsicht von gesundem Gewebe unterscheiden. Beispielsweise ziehen sich die Fasern des sympathischen Nervensystems, das häufig auch als der erregende Teil des Nervensystems bezeichnet wird, aus Entzündungsgebieten zurück. "Offenbar produzieren Immunzellen dort bestimmte Faktoren, die die Nervenfasern abweisen", sagte Straub. Das sympathische Nervensystem mit seinen entzündungshemmenden Botenstoffen kann also in einem chronischen Entzündungsgebiet keinen Einfluss mehr ausüben. Bei Krankheiten wie der rheumatoiden Arthritis oder der Darmerkrankung Morbus Crohn könnte dies dazu beitragen, dass die Beschwerden chronisch werden.
Darüber hinaus werden männliche Hormone, die Androgene, in Entzündungsgebieten vermehrt in weibliche Östrogene umgewandelt, die der Entzündung zusätzlich Vorschub leisten. Noch fester schließt sich der Teufelskreis dadurch, dass entzündungshemmende Substanzen, wie etwa Cortisol, in chronischen Entzündungsherden schneller abgebaut werden als in gesunden Geweben.
Die Grundlagenforschung könne auch dabei helfen, lange bekannte, aber bisher nicht verständliche Phänomene zu enträtseln, sagt Straub. So erklären die vielfältigen Verbindungen zwischen Immunsystem und Nervensystem seiner Ansicht nach, warum rheumatische Beschwerden oft an zwei symmetrischen Gelenken auftreten - etwa am Zeigefinger der linken und der rechten Hand -, andere Gelenke jedoch auslassen. "Und wenn man anerkannt hat, dass Hormone das Immunsystem beeinflussen, verwundert es nicht, dass manche Erkrankungen bei Frauen häufiger auftreten als bei Männern und umgekehrt", sagt Straub.
Ob sich aus diesen Erkenntnissen neue Therapien ableiten lassen, ist noch unklar. "Zunächst einmal wollen wir verstehen, was abläuft, bis eine Krankheit ausbricht und welche Faktoren darüber entscheiden, ob sie chronisch wird oder wieder abklingt", sagte Rainer Straub.
Für Manfred Schedlowski, der als Psychologe und Verhaltensimmunologe am Institut für Verhaltenswissenschaften der ETH Zürich arbeitet, eröffnet die interdisziplinäre PNI-Forschung zwei Therapiewege: Neben Medikamenten sind seiner Ansicht nach auch verhaltenstherapeutische Ansätze geeignet, das Zusammenspiel von Nervensystem, Hormon- und Immunsystem wieder ins Lot zu bringen. "Wir wollen bis zur molekularen Ebene hinunter verstehen, wie die Zahnräder der unterschiedlichen Körpersysteme ineinander greifen", sagt der Züricher Forscher. "Sobald uns das gelingt, werden wir mit allen zur Verfügung stehenden Werkzeugen an ihnen drehen."
Die Ratschläge, die Psycho-Neuro-Immunologen den Patienten geben können, sind noch recht bescheiden. Und glücklicherweise verschonen sie ihre Mitmenschen mit der Empfehlung, in schwierigen Lebenssituationen Stress zu vermeiden. Schließlich wissen die Mediziner nur allzu genau, dass dazu kaum einer fähig ist.
Statt dem Stress krampfhaft auszuweichen, rät die Psychologin Janice Kiecolt-Glaser von der Ohio State University in Columbus dazu, nervliche Überlastung nicht zum Dauerzustand werden zu lassen. Dazu tragen ihrer Ansicht nach Entspannungstechniken wie Tai Chi und Meditation ebenso bei wie ein dichtes Netz sozialer Kontakte. Kiecolt-Glaser: "Denn Gespräche helfen, die Anspannung abzubauen und einen nüchternen Blick auf die eigenen Probleme zu gewinnen."
Die Mitglieder der Psycho-neuro-immunologischen Forschungsgesellschaft sind inzwischen selbstbewusst genug, um weder vor dem Begriff "Selbstheilungskräfte" noch vor dem Wort "ganzheitlich" zurückzuschrecken. "Vor fünfzehn Jahren wäre jeder, der es gewagt hätte, diese Begriffe in den Mund zu nehmen, auf wissenschaftlichen Konferenzen verlacht worden", erinnert sich Manfred Schedlowski.
Er selbst musste sich verspotten lassen, als er Ende der achtziger Jahre nach Kooperationspartnern suchte, um gemeinsam die Auswirkungen der Psyche auf das Immunsystem zu untersuchen. "Das ist etwas für Künstler, das hat mit Wissenschaft nichts zu tun", sagte damals ein Kollege. Inzwischen haben die Psycho-Neuro-Immunologen aber offenbar bewiesen, dass sie keine Esoteriker sind, sondern streng wissenschaftlich arbeiten.
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