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Alt 24.10.2006, 21:20
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marjana marjana ist offline
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Standard AW: Ärzte- Halbgötter in Weiss

Uihjeh,
liebes Gummibärchen, das ist alles etwas viel für Dich und als aktive Frau möchtest Du handeln. Es betrifft Dich, Du bist in den Prozeß eingebunden (z.B. als Fahrerin) und dennoch bist Du „nur“ die Schwiegertochter. Du fühlst Dich machtlos, weil Du nicht helfen kannst, wie DU es für richtig hältst.

Ich kann gut nachvollziehen, wie dieses zur Tatenlosigkeit-verdammt-Sein in Dir bohrt. Stell Dir mal vor, wie ich mich als Ehefrau gefühlt habe, als mein Mann eine Behandlungspause von 4 Monaten hingenommen hat, nachdem die erste Reihe von Chemotherapien so erfolgreich war. Eine unmittelbar folgende Strahlentherapie hätte sein Leben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit deutlich verlängert und ihm Lebensqualität erhalten. (Bei seiner Krebsart wäre ein kompletter Sieg ein Wunder gewesen.) Ich bin Kopf gestanden, ich war wütend, ich war verzweifelt … aber es war SEINE Entscheidung! Ich konnte ihn nicht überzeugen, also mußte ich akzeptieren. Und wie seine Entscheidung mein Leben beeinflusst hat !

Es ist eine Frage der Menschenwürde, der Achtung, des Respekts, des Rechts auf Selbstbestimmung – ich habe nicht das Recht jemanden zu etwas zu zwingen und wenn ich noch so sehr der Meinung bin, daß es zu seinem Glücke sei. Nach vier Monaten war der schwere Rückfall deutlich. Ich hatte Recht behalten … es war ein Scheißgefühl ! Jetzt war mein Mann bereit, eine andere Klinik zu suchen. Zu spät.

Und als er damals im Februar, 2 Monate vor seinem Tod, bei einem „Heim-Urlaub“ Pläne mit dem Kulturamt für eine Ausstellung im Dezember machte … ich bin weinend aus dem Raum gegangen, ganz still, damit es keiner merkt. Zu diesem Zeitpunkt wollten die Ärzte schon alle lebensverlängernden Therapien einstellen. Erstaunlicherweise zog der Oberarzt, die schon getroffene Entscheidung, meinen Mann an die palliative Medizin abzugeben, zurück und sie hielten ihn noch 3 Wochen auf der Station aufgrund der Bitte seiner Kinder, aber sein Körper regenerierte sich nicht mehr, um eine erneute Chemotherapie durchzustehen. Das war absehbar, für die Ärzte dieser Klinik, für mich … nur für seine Kinder nicht (immerhin auch schon erwachsen).

Und was die Verwirrtheit angeht. Ganz sicher können Medikamente sowie eine so traumatische Situation Zustände der Verwirrtheit und zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit hervorrufen, aber deshalb lasse ich mir, und ich bin leider inzwischen in der gleichen Situation, von niemandem vorschreiben, ob ich meinen eigenständigen Wohnsitz aufgebe, weil ja etwas passieren könnte. Man hat das schon einige Male mehr oder minder offen von mir gefordert … Wenn das passiert, dann sterbe ich womöglich vorzeitig, weil nicht schnell genug Hilfe da ist. Dann ist es eben so. Na und ? Ich lebe jetzt, und ICH bestimme, soweit ich das kann, MEIN Leben.

Und was das Haus Deines Schwiegervaters angeht. WENN er im Rollstuhl nach Hause muß, DANN wird sich eine Lösung finden. Laß doch nicht zu, daß alle Eventualitäten jetzt schon Dein, Euer Leben noch mehr auf den Kopf stellen, als es die Krankheit schon tut.

Mir scheint fast, als seiest Du mehr in Panik als die Schwiegereltern. Die beiden müssen das durchstehen. Und am besten kannst Du vermutlich helfen, indem Du es akzeptierst, daß es in erster Linie um sie geht.

Und was das würdige Sterben zu Hause angeht … ich konnte am Schluß nicht mehr für das Leben meines Mannes garantieren, ich konnte nicht 24 h täglich wach sein. Könnt Ihr das garantieren, auch wenn Ihr mehrere Personen seid ? Ich war dann eben täglich im Hospiz bei ihm, habe dort auch eine über die andere Nacht geschlafen. Dort konnten sie ihn in einen Rollstuhl hieven und wir sind mit den Kindern im Park spazieren gegangen oder ihn mit einer Spezialvorrichtung in die Badewanne bringen, was ihm täglich mehr Schmerzlinderung geschaffen hat als alle Medikamente. Dort saßen wir stundenlang mit Musik. Ich war nicht mehr überfordert mit all dem was notwendig war, konnte den Schwestern aber hilfreich zur Seite stehen. Es war immer schnellstens professionelle Hilfe da – Schwestern, Ärzte, Psychologen. Das Haus war abgesehen von medizinisch notwendigen Details wie ein angenehmes Hotel gestaltet und wir durften noch einiges privates hinzufügen.

Es gäbe noch so viel zu sagen. Ich laß es erst mal dabei.
Man kann im Leben nicht alles vorherplanen. In manches muß man hineinwachsen und das geht natürlich nur langsam. Versuch, geduldiger zu sein, auch wenn dafür „eigentlich“ keine Zeit ist.

Ich fühle mit Dir und hoffe, daß Du unter dieser Anspannung des Nicht-ausreichend-was-tun-Könnens Dein eigenes Leben nicht vergisst und Deinem Mann, der als direkter Sohn ja wohl auch sehr betroffen ist, eine große Stütze sein kannst. Haltet die Hand des Vaters, wenn er weint. Nehmt ihn in den Arm, lasst ihn Eure Liebe spüren. Das ist schon sehr viel. Es ist nicht leicht für ihn, das mögliche, das wahrscheinliche Sterben zu akzeptieren.

Und ich nehme Dich virtuell in den Arm, damit Du auch einfach weinen darfst.

Marjana

P.S. Die Ausstellung habe ich für meinen Mann und in seinem Auftrag aus seiner letzten Nacht posthum durchgeführt.
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