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Alt 25.12.2014, 07:03
Namida Namida ist offline
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Standard AW: Weihnachten und Schönrednerei

Liebe Tine,

trotz der schweren Zeit, in der ihr euch befindet, wünsche ich dir und deiner Familie ein schönstmögliches Weihnachtsfest.

Beim Lesen deiner Geschichte kam es mir so manches Mal vor, als läse ich meine eigene Geschichte. Auch meine Mutter hat Eierstockkrebs, FIGO IV mit Pleuraerguss (Erstdiagnose an meinem Geburtstag im letzten Jahr– das werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen). Sie ist in einer sehr guten Klinik anderthalb Stunden von unserem Wohnort entfernt operiert worden, leider nicht tumorfrei. Die darauf folgende 1. Chemo hat nicht wie gewünscht angeschlagen, der Tumormarker stieg quasi sofort nach Ende dieser Chemo wieder an.

Das war letztes Jahr um die Weihnachtszeit herum… Ich schlage mich nun also schon seit etwa einem Jahr mit den düsteren Prognosen der Ärzte herum und habe schon letztes Jahr befürchtet, dass es unser letztes gemeinsames Weihnachten ist… Diese Ängste und Sorgen zermürben einen ganz schön, vor allem, wenn man zudem noch einen stressigen Hausbau und einen Vollzeit-Job an der Backe hat. Auch ich fühle mich an manchen Tagen wie 80. Das kann ich dir gut nachfühlen.

Meine Mutter ist zum Glück dieses Weihnachten immer noch da. Sie hat aber wieder ein schweres Jahr hinter sich und es geht ihr auch nicht gut. Der Krebs hat sich im ganzen Bauchraum ausgebreitet und macht ihrem Magen-Darm-Trakt große Probleme. Seit über einem halben Jahr wird sie parenteral über den Port ernährt und kann ergänzend dazu immer weniger selbst zu sich nehmen. Seit ein paar Tagen isst sie gar nichts mehr selbst, da sie es ohnehin wieder erbrechen würde. Sie ist dünn und zerbrechlich geworden und hat oft Schmerzen. Das mit anzusehen, ist schmerzhaft für uns alle.

Was du über deine Familie schreibst, klingt für mich auch sehr vertraut… Auch meine Schwester ist psychisch labil und würde den Tod meiner Mutter nicht verkraften, auch mein Vater ist, seit ihm klar ist, dass es wohl nichts gibt, was meiner Mutter noch helfen kann, sehr depressiv und hat auch schon geäußert, dass er auch nicht mehr leben will, wenn seine Frau nicht mehr ist… Dieses Szenario macht mir als Tochter natürlich große Angst.

Am Anfang diesen Jahres, als der Tumormarker stieg und stieg, aber im CT noch „nichts Eindeutiges“ zu sehen war, hatte ich genau die gleiche Einstellung wie du jetzt – man muss sich der Realität stellen, Schönreden bringt nichts und Hoffnung zu schöpfen tut nur weh.

Dann ist da aber meine Mutter mit ihrem unglaublichen Kämpfergeist und Überlebenswillen, vor dem ich nur meinen Hut ziehen kann. Und irgendwann stellte sich bei mir der Gedanke ein: Wer bin ich denn, dass ich mir anmaßen könnte, ihr ihren Lebenswillen zu nehmen? Denn würde sich meine Mutter aufgeben, würden sich die Befürchtungen, die mich so sehr quälen, bestimmt noch viel schneller bewahrheiten, wie auch bluecat58 schon schrieb. Und ich bin der Überzeugung, von der mich auch kein Mediziner mit irgendwelchen Studienergebnissen abbringen kann, dass für den Verlauf der Krankheit doch einiges von der Einstellung und vom Lebenswillen des Kranken abhängt.

Und ich für meinen Teil habe lieber eine Mutter, die kämpft und immer noch so viel Positives ausstrahlt, als eine, die sich aufgegeben hat.

Dass die vor uns liegende Zeit weiter nicht einfach sein wird und dass ich mich weiter viel und wohl auch immer mehr um die alltäglichen Dinge bei meinen Eltern kümmern muss und Aufbauarbeit bei Vater und Schwester leisten muss, habe ich akzeptiert. Es hilft ja nichts, darüber zu sinnieren, wann uns was auch immer erwarten wird – wir müssen es sowieso nehmen, wie es kommt. Ich kann nur in dieser Zeit eine bestmögliche Stütze für meine Mutter sein, so dass sie sich sicher sein kann, dass es weiter geht, auch wenn sie gehen muss. Und damit sie das Gefühl hat, dass da noch jemand ist, der an sie glaubt und sie nicht aufgegeben hat. Bei all den frustrierenden Arztgesprächen („Verabschieden Sie sich mal langsam davon, dass es Ihnen je wieder besser gehen wird“, „Sie können nur abwarten, bis es Ihnen noch schlechter geht, und dann versuchen wir noch mal eine andere Chemo“, „Überschätzen Sie nicht unsere Möglichkeiten“…) gibt das meiner Mutter großen Halt. Und ich glaube, auch deine Mutter hätte mehr Kraft, wenn du ihr den Rücken stärkst.

Dafür brauchst du aber auch selbst erst mal Kraft, die du weiter geben kannst. Bei mir war das ein Prozess, der sich über Monate hinzog, bis ich bereit war, ganz aufrecht diesen Weg mit meiner Mutter zu gehen, ohne ihr ihren Lebensmut und ihre Zuversicht zu nehmen. Wenn du Hilfe von außen benötigst, um deine Belastungen zu tragen, hol sie dir. Es gibt Krebs-Beratungsstellen, sicher auch in deiner Nähe, oder Selbsthilfegruppen für Angehörige. Sicher ist das eine Typsache, ob einem so etwas hilft, aber ein Versuch kann ja nicht schaden.

Noch ein paar Zeilen zum Verlust der unbeschwerten Jugend (da ich selbst zwar nicht mehr Mitte zwanzig bin, aber immerhin nur zehn Jährchen älter): Keinesfalls möchte ich schulmeisterlich klingen, aber auch dieser Verlust ist einer, den wir alle irgendwann im Leben durchleiden müssen. Man muss sich verabschieden von der Kindheit, muss selbst Verantwortung übernehmen und akzeptieren, dass irgendwann die Zeit gekommen ist, wo sich die Eltern-Kind-Rolle verändert und man selbst als Kind mehr und mehr für die Eltern sorgen muss. Damit fertig zu werden tut sehr weh, das weiß ich selbst. Vor allem, wenn man sieht, wie glücklich andere Familien sind und wie sehr manche Freunde noch fest und sicher in ihrer behüteten Kind-Rolle verwurzelt sind. Aber man kann auch an Veränderungen, denen man sich stellen muss, wachsen. Eine Wahl haben wir sowieso nicht, und so kann man auch das Beste daraus machen.

Meine Mutter sagt dazu oft ganz passend: „Wichtig ist nur den Kopp oben zu behalten!“

Genau das wünsche ich dir und außerdem viel Kraft für die vor euch liegende Zeit.

Liebe Grüße
Namida
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