Thema: Liebe Mor
Einzelnen Beitrag anzeigen
  #2  
Alt 22.01.2008, 01:09
Benutzerbild von Marejka
Marejka Marejka ist offline
Registrierter Benutzer
 
Registriert seit: 03.04.2007
Ort: Dänemark
Beiträge: 13
Standard Vor einem Jahr bist Du gestorben.

Wie soll ich anfangen?

Ich könnte beten, aber ich glaube nicht an Gott.

Ich könnte intensiv an Mama denken, aber hier dreht es sich doch schliesslich ausschliesslich um den Schmerz der Trauernden. ? – ich wundere mich über mich selbst. Geht es nur darum? Wenn ich jetzt intensiv an sie denke, also an sie, ihre Person, wie sie war, wie sie gelitten hat, wie sie erlöst sein muss, hockt sie sich dann still neben mich, weil ich dann wirklich SIE erreiche?

Warum will die Trauer nicht so recht herauskommen? Weil ich schreibe, und damit zu rational bin?
-

Nein, es nützt nicht richtig etwas, das Schreiben zu lassen. Zwar weine ich, aber nicht so heftig, wie ich das eigentlich möchte. Nicht, weil ich mir auferlege, dass ich stärker trauern sollte an diesem Tag, sondern eher „nicht so heftig wie ich das möchte“ in dem Sinn, dass da noch mehr ganz unten drin sitzt, was ich aber nicht herausbekomme.

Ich habe mir das letzte Bild von dir angeschaut, vom 13. Januar. Ich glaube, danach ist keines mehr gemacht worden. Du liegst auf dem Sofa im Wohnzimmer und lächelst. Ich dachte beim Anschauen des Fotos kurzweilig daran, wie es sein muss, zu wissen, dass man unheilbar krank ist, und bald sterben wird. Bekam Mitleid. Und merkte aber sofort, eigentlich ist es kein Mitleid. Ich beziehe immer sofort auf mich, oder besser: denke dann auch schon sofort, dass ich lieber in mich kehren sollte. Ich meine: ich glaube nicht, dass ich wirklich Mitleid empfinde, sondern dass ich sofort parallel übersetze, wie ich mich denn in dieser Situation fühlen würde, und wie schrecklich das doch für mich wäre. Und ertappe mich dann beim Gedanken: Hey, es ging hier gerade nicht um Dich, Du warst gerade dabei, Mitleid zu empfinden. Und weiss aber dann, dass ich das echte Mitleid eigentlich nicht herauskramen kann. Empfinden die meisten Menschen Mitleid, weil sie sich sofort mit derjenigen Person und deren Leiden identifizieren, und das starke Gefühl des Leides dann auf sich beziehen? Oder wird von den meisten Menschen wirklich echtes Mit-Leid empfunden? Bin ich zu streng zu mir selbst, denn vielleicht ist es ganz normal, dass Mitleid sich halt so interpretiert, dass man selbst – ja – mit leidet?

Solche blöden Gedankengespinste tauchen bei mir auf anstatt dass ich trauere. Oder sind das alles Aspekte der Trauer?

Ich meine, warum trauern, wenn nicht um einen selbst, als Hinterbliebenen, als den, der etwas verloren hat, als den, der vielleicht etwas bereut. Trauer ist doch super egozentriert, oder nicht?

Denn rein rationell, so weiss ich ja: Du leidest nicht mehr. Entweder bist Du wirklich im Himmel, oder Du bist weg futsch verschwunden, oder Du bist auf der Durchreise, oder Du bist noch ganz irgendwo anders. Aber wie das bei Reisenden, bei Auswanderern, bei Umziehern nun mal so ist: Wenn Dein Bewusstsein, Deine Seele noch irgendwie existiert (woran ich eigentlich glaube), dann hast Du jetzt andere Sorgen. Entweder bereitest Du Dich auf ein neues Leben vor, oder Du bist schon in einem drin, oder Du bist nicht ins „Licht“ gegangen und hängst hier noch rum wegen unfinished business, was ich nicht glaube, dann wird Dich dieses Business halt in Anspruch nehmen – oder Du schaust Dir unser Tun und Lassen einfach nur an und sorgst Dich vielleicht sogar um UNS. Und warum sollte ich Dir dann noch die zusätzliche Sorge bereiten, dass ich mit meinen egoistischen Gefühlen Mitleid in eigenes Leid umkehre, und meine Trauer über den Verlust von Dir, bzw. meine Schuldgefühle Dir gegenüber einfach Gefühle des Verlustes und Schuldgefühle sind? Warum? Und wenn Du gar nicht mehr da bist, dann gibt es erstrecht keinen Grund, sich mit Trauer fertig zu machen, denn man weint nicht über verschüttete Milch. Doch, ich bin mir sicher, Trauer ist reiner Egoismus, weil man es nicht rafft, loszulassen, weil man etwas vermisst, weil man etwas bereut. Und das widerspricht irgendwie meiner Lebensphilosophie, dass ich auf diese Gefühle Zeit verschwenden sollte.

Das hat nichts damit zu tun, DASS ich Dich vermisse, DASS ich Schuldgefühle habe, DASS ich den Gedanken schrecklich finde, dass Du gelitten hast. Dass es Dir weh getan haben muss zu wissen, dass Du z.B. Deine Nina nicht heiraten würdest sehen können. Oh, jetzt kommt hier plötzlich echtes Mitleid auf. Die Augen füllen sich mit Tränen. Alle Deine unerfüllten Wünsche. Aber Du hattest immer die Hoffnung, Mor – wenn Dich das trösten kann, Martina.
Aber warum soll ich diesen Gefühlen frönen, denn sie sind unnütz. Sie sind nicht mehr aktuell, denn es sind nur noch Gefühle, ich kann an den Tatsachen, die sie ausgelöst haben mögen, oder eher, die daraus entstehen könnten, nichts mehr ändern, den die Person, gegen die sich diese Gefühle richten, ist nicht mehr. Ich mache mich nur damit selbst fertig.

Tolles Trauerschreiben. Wirklich, ist mir ja voll gelungen. Was mögt Ihr jetzt denken, die das hier lesen. Bin ich zu kalt? Seht Ihr, schon wieder. Ist es nicht egoistisch, sich zu überlegen, ob andere „Leute“ einen gefühlskalt finden? Denn darin liegt ja, dass man sich um sein Ansehen Sorgen macht. Uuu-ha, als gefühlskalt empfunden werden, das ist gar nicht gut fürs Image. Scheiss doch drauf, warum soll ich mir Sorgen machen, ob jemand mich jetzt in eine falsche Schublade steckt? Nur weil mich der Gedanke vielleicht verletzen könnte, als etwas anderes angesehen zu werden, als ich eigentlich bin? Wie egoistisch ist das denn wieder mal?! (Und wie oder wer bin ich eigentlich...)

Ich vermisse Dich, Mor, ich habe Dich lieb, ich werde Dich immer lieb behalten. Ob Du das noch zu etwas gebrauchen kannst, weiss ich nicht, und zur Abwechslung kann ich darin sogar mal nichts unmittelbar Egoistisches bei mir sehen. Du warst doch meine Mama. Du warst stolz auf mich, Du warst glücklich dass Du mich in die Welt gesetzt hast, ich war Dein Sonnenschein, jedenfalls als Kind.

Wir waren ziemlich verschieden, ich habe Dich in den letzten langen Jahren nur selten verstanden. Und habe Dir sicher zu selten gezeigt, dass ich Dich lieb habe. Dass Du mir etwas bedeutest. Und vielleicht hast Du das in den konkreten Situationen auch noch nicht mal so sehr getan, mir etwas bedeutet, weil ich ja unbedingt alles nach meinem eigenen Kopf machen musste, weil mein Weltbild ja das bessere war. Deshalb habe ich Dich trotzdem lieb. Du bist doch meine Mama. Du bist halb ich, oder besser: Ich bin halb Du. Ohne Dich wäre ich nicht.
Es tut mir so leid, dass Dein Leben so verlaufen musste. Darüber könnte ich jetzt noch jahrelang schreiben, aber das lasse ich lieber. Ich frage mich nur, wenn Du in den letzten klaren Stunden zurückgeblickt hast, hinter wie viel Prozent Deines Lebens hast Du dann gestanden? Bist Du einigermassen zufrieden gegangen, so wie ich sicherlich gehen würde, denn Egoismus kann sich auch positiv auswirken – nämlich indem man zu dem steht, was man tut, indem man bewusst Entscheidungen trifft; beziehungsweise sich der Tatsache bewusst ist, dass selbst, wenn man Entscheidungen unbewusst getroffen hat, oder Entscheidungen einem sozusagen aufgezwungen wurden, dass man doch immer noch ein Wörtchen mitzureden hatte, und zu den Konsequenzen der eigenen Handlungen steht bzw. die Wahl der weiteren Reiseroute nach gestellter Weiche aktiv vornimmt? Oder hast Du Dein Leben als lauter vorgestellte Weichen gesehen, wo Du von einer zur anderen keinen oder geringen Einfluss hattest, wie es von nun ab weitergeht?
Ich wünsche mir sehr, so sehr, dass Du in den letzten Tagen keinen Unfrieden mit Deinem Lebensverlauf verspürt hast. Ob es gewollt oder ungewollt war, wie Dein Leben sich geformt hat – ich hoffe so sehr, dass Du friedvoll hast gehen können. Zurückschauen und sagen: OK, 90% davon würde ich wieder so machen. Weisst Du, JEDER muss sterben, das liegt nun mal in der Natur der Sache, Du wusstest das sowohl wie ich das weiss, und das Einzige, was zum Schluss doch wohl zählt ist: bist Du zufrieden? Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es ist, am Ende seiner zugemessenen Zeit auf Erden sich vorstellen zu müssen, dass man so Einiges hätte anders machen sollen – und es ist ganz einfach zu spät.
Vielleicht im nächsten Leben, aber wissen wir das... und wenn wir wiedergeboren werden, können wir uns dann erinnern an das letzte Leben, um die Fehler, die wir im letzten Leben meinten, gemacht zu haben, diesmal nicht mehr zu machen...?? Ich würde gerne als Indianer wiedergeboren werden, irgendwo im Dschungel. Obwohl das heutzutage ja auch nicht mehr so ist, wie es mal war.

Wenn Du wiedergeboren wirst, Mor, dann wünsche ich Dir einfach nur das geilste, fantastischste, wunderbarste Leben was Du jeh gehabt hast. Wo Dir alle Möglichkeiten offenstehen. Wo Du all das erleben kannst, was Dir in Deinem letzten Leben verwährt wurde. Wo Du Deine Lebensweisheit noch aufstocken kannst, und gleichzeitig jeden Tag in vollen Zügen geniessen kannst. Ohne Krankheiten, ohne Geldsorgen, mit Liebe und Vielfalt und allem, was Dich glücklich und Dir Spass macht.

Was heisst das ganze Gelabere jetzt eigentlich in Kurzfassung?
Dass ich froh bin, dass ich weiss, dass Du nicht mehr leiden musst (Du hast ja nicht umsonst jahrelang Schlaftabletten gesammelt, und sie nie benutzt, weil Du ja dann infolge Deines Glaubens nicht in den Himmel kommen würdest). Auch wenn Trauernde dies „sie oder er muss nicht mehr leiden“ ja oftmals als den dümmsten Spruch überhaupt abtun.
Dass ich traurig bin, dass Du nicht mehr da bist.
Dass ich mir Trauer aktiv nur selten zugelassen habe, weil ich ihn egoistisch finde.
Dass ich deshalb nicht auf den Brunnengrund vorstossen kann. Und dass ich ihn deshalb nie so leer schöpfen kann, dass er nicht mehr bei jedem kleinen Erdbeeben überschwappt. Und dass ich, eben da ich das weiss, aber auch keine Panik mehr bekomme, wenn mal wieder Wasser auf die Erde siecht.
Dass ich nicht weiss, ob Du irgendwie bei mir bist, oder nicht, und dass ich an dem Gedanken gleichzeitig Freude haben würde und es mir Schrecken bereiten würde. Freude, weil ich dann wüsste, dass ich nicht allein wäre, und Du auf mich aufpasst – Schrecken, weil ... weil... der Brunnen dann so explodieren würde, dass ich vielleicht ertrinken müsste.

Mor, bleib bei mir, pass auf mich auf, ja? Ich brauch doch meine Mama...
Ich habe Dich lieb... ich vermisse Dich... Mor... Warum musstest Du immer so krank sein???? Ach, Mor, ich hätte Dir so etwas Anderes gegönnt...
Mit Zitat antworten