Thema: Liebe Mor
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Alt 17.09.2007, 04:21
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Marejka Marejka ist offline
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Standard Liebe Mor

Liebe mor,
Ich träume von Dir, suche im Traum nach Sachen, die von Dir übrig geblieben sind. Finde Kleinkram, hier und da ein Bild, das alte Fotoalbum noch aus Deinen Kindertagen, einen Anhänger, ein paar Zeitungsausschnitte. Sachen, die Du aufbewahrt hast, die Dir mal wichtig waren. Erinnerungen an ein Leben voller Hingabe und Hoffnungen. Erinnerungen an ein Leben, was Dir schon früh aus den Händen entglitten zu sein schien, wo die grossen und freudigen Hoffnungen auf ein gutes Leben langsam und Stück für Stück unerbitterlich durch die kleinen auf ertragbare Schmerzen an heutigen und nächstem Tag ersetzt wurden. Fragmente Deines Lebens, was mit den Jahren immer mehr zerbröckelte.

Der Zeitungsaausschnitt, vielleicht eine Erinnerung an verflossene Geliebte. Der Anhänger Zeuge einer schönen Reise. Dein Kindheitsalbum eine Sammlung Momentaufnahmen einer noch nicht einmal unbeschwerten Kindheit im Krieg, mit Eltern, die sich scheiden liessen, Schwestern, die Dir nah waren und starben, oder die Dir innerlich so weit entfernt erhalten blieben. Kleinkram von denen ich nie wissen werde, warum Du ihn aufbewahrt hast. Hast Dein Leben lang gesammelt, jeder Schnipsel altes Geschenkpapier wurde säuberlich gelättet, damit Du ihn irgendwann mal auf dem Umschlag von einem Deiner Briefe an uns wiederverwerten konntest. Mit Liebe hast Du den Schnipsel dann zurechtgeschnitten und fein festgeleimt, vielleicht noch mit ein paar Deiner schönen Zeichnungen verziert, hast meinen Bruder belämmert, ihn endlich zur Post zu bringen, Deinen Liebesgruss aus Deinem verzweifelten Alltag, wo Du dann doch in dem Moment alles Schlimme vergessen hast und nur mir, Deiner Tochter, die Mutter per Brief zukommen lassen wolltest.

Ich wache heulend auf, da wo ich im Traum nicht mehr von Dir finden konnte. Du bist weg. Von all Deinen Hoffnungen, Wünschen, Taten ist kaum etwas übrig. Langsam versickert im Laufe der Jahre, und den vergänglichen Resten in einer vollgesammelten Wohnung haben wir Kinder im Januar den Garaus gemacht. Haben Deine Geschenkpapierschnibbel weggeschmissen, Deine Akten und Belege jahrelanger Behördengänge und Ärzteschreiben vernichtet, die Telefonbücher fachgerecht entsorgt, Deine tausend Rollkragenpullover den Armen gespendet, das gute Porzellan aus dem alten Wohnzimmerschrank Trödlern gegeben, weil wir einfach nicht die Möglichkeit hatten, etwas Anderes damit zu tun. Hast Du zugeschaut, und gesehen, wie wir Deine gesammelten Hoffnungen auf Normalität und „es wird vielleicht mal irgendwann besser“ auf den Müll transportiert haben?

Nichts wurde besser, alles wurde nur schlimmer. Dein Todesurteil war dann der Eierstockkrebs. Du dachtest, es sei ein Nierenstau.

Deine Sammlung „Igors“, wie Du Deine Nierensteine immer genannt hast, haben wir entsorgt. Deine Krücken, die Armschlaufe, die Dich auch nicht vor Lymphödem bewaren konnte. Die Rollkragenpullover Symbole dafür, dass Du immer sofort erkältet wurdest, schneller als jemand „Zugluft“ sagen konnte. Selbst die Kirche, in denen Du sie trugst, haben sie Dir zum Schluss genommen. Sei nicht traurig, es war eh nur der äussere Rahmen, den Du schon lange nicht mehr aufsuchen konntest. Den Glauben hattest Du Dir behalten, und auch, wenn ich es nicht verstehe und gerade jenen hasse, kann ich mir das Urteil nicht erlauben, dass er für Dich schlecht war, und bin froh, dass Du ihn am letzten Tag noch mitgenommen hast.

Obwohl Du Angst hattest. Du lagst in Deinem Bett, mit Schmerzmitteln zugedröhnt. Bist vom Wasser in der Lunge hustend und aus einem Traum panisch aufgewacht. Ich hab Dir den Rücken gestützt, und Du hast gestammelt bekommen, dass Du in einem dunklen Loch hinter Gittern gesessen hättest. Ob denn da noch was in Deinem Leben wäre, was Du noch nicht gesöhnt hättest? Ich weiss nicht, ob wir Dir in den letzten Stunden noch die Angst haben nehmen können. Du warst so benebelt von den Schmerzen, den Schmerzmitteln und der fortgeschrittenen Wasserlunge.

Dann musste ich abfahren. Der Nachtzug war gebucht. Meine eigene Untersuchung wartete. Wir wussten nicht, dass es so schlimm um Dich stand, der Arzt hatte noch immer von ein paar Monaten geredet. Ich habe Dir Tschüss gesagt wie am Wochenende vorher, noch einmal dem Grauen ins Auge gesehen, ob es wohl diesmal der allerletzte endültige Abschied sein würde. Wie ich da aus der Tür kam, ist mir heute wirklich ein Rätsel.

Ich hab Dich nie wiedergesehen.
Werde Dich nie wiedersehen.

Werde Dich nicht mehr umarmen, keine verzierten Briefe mehr von Dir erhalten, keine Anrufe. Werde nie erfahren, ob Du sehen kannst, dass mit meiner eigenen OP alles gut gelaufen ist, dass ich mit meinen Behandlungen jetzt fast fertig bin. Werde nie wissen, ob Du bei meiner Hochzeit im Sommer zugeschaut hast.

Mami, entschuldige, für all die Male wo ich Dich abgewürgt habe, weil ich an Deinem Leben voll Krankheit und Elend nicht teilhaben wollte. Für alle die Male, wo ich Dir die Umarmung verwehrt habe. Für all die Male, wo ich die Ohren verschlossen und den Mund zu weit aufgerissen habe. Es tut mir so leid, ich hätte Dein Leben so gerne zum Guten verändert, aber ich konnte nicht. Und habe mich damit selbst nicht auf Dauer konfrontieren können.

Wo Du jetzt wohl bist. Schwirrst Du noch hier rum? Oder hast Du Dir schon ein neues Leben ausgesucht? Du hast öfters gesagt, dass Gott Dir die Prüfungen alle auferlegt, damit Du später anderen Seelen in der gleichen Situation mal beistehen kannst. Kannst Du es jetzt wenigstens zu etwas gebrauchen, oder war alles vergeblich und sinnlos, Deine letzten Hoffnungen ein Schein, und es geht Dir dadurch jetzt vielleicht sogar noch schlechter, als da Du noch Tag für Tag auf der Erde kämpfen musstest?

Ich mache das „Opi-Kästchen“ auf, eines der wenigen Dinge, die aus Deinem Leben noch erhalten sind. Dort liegen meine Milchzähne. Ein Anhänger. Ein Foto. Das Ninalein hat ihre Mami verloren.

Ich lege mich hin und heule mich wieder in den Schlaf.
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