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Alt 11.08.2009, 11:55
Stefans Stefans ist offline
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Standard AW: Suizid nach 1. Chemo-Block

Hallo,

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Zitat:
Zitat von twinkle80 Beitrag anzeigen
Inzwischen bin ich sehr traurig, dass er uns nicht wenigstens ein paar Zeilen hinterlassen hat.
Als meine Frau wusste, dass sie am Krebs sterben muss, aber noch Zuhause war, hat sie verschiedene persönliche Unterlagen (Tagebücher, Briefe u.ä.) zusammengesucht, die ich nach ihrem Tod verbrennen sollte. Mir aber nicht gesagt, wo. Ein paar Wochen nach ihrem Tod öffnete ich zufällig eine große Schublade, in der all diese Sachen waren. Und obenauf der Abschiedsbrief an meine Frau - von ihrer ersten großen Liebe, die sich vor 30 Jahren das Leben genommen hat. Ich wusste nicht, dass es diesen Brief gibt. Und schon gar nicht, dass meine Frau ihn all die Jahrzehnte über aufgehoben hatte. Ging mich auch nichts an. Und ich hätte ihn auch nicht gelesen, aber bevor ich kapiert hatte, worum es sich handelt, hatte ich ihn schon gelesen.

Es waren genau solche "paar Zeilen", die twinkle vermisst hat. Ein paar Sätze, das Papier aus einem A5-Schreibheft rausgerissen. Sinngemäß: "ich liebe dich, aber ich kann nicht anders." Twinkle, du hast nichts verpasst ohne so einen Abschiedsbrief. Meine Frau hat den Suizid ihres Freundes ein Leben lang nicht verwunden. So wird es jedem gehen, deren Partner / Angehöriger / Freund sich das Leben nimmt. Mit der Schuld (wieso habe ich das nicht gemerkt, wieso konnte ich das nicht verhindern...) muss man leben. Und diesen Brief... ich, der 20 Jahre lang miterlebt hat, wie meine Frau unter dem Suizid dieses Menschen gelitten hat, empfand ihn eher als Verhöhnung, nicht als "beruhigende" Erklärung. Der Mann hätte besser die Klappe gehalten.

Was ich am Thema Suizid so schlimm finde, ist die absolute Tabuisierung. In D nehmen sich doppelt so viele Menschen pro Jahr das Leben wie im Straßenverkehr sterben. Gut 10.000, also etwa jede Stunde einer. Aber es gibt ein stillschweigendes agreement, dass darüber nicht berichtet werden darf. Tun Fernsehen und Zeitungen auch grundsätzlich nicht. Angeblich, um "Nachahmungstaten" zu verhindern. Blödsinn, weil die Suizidraten in allen westlichen Industriegesellschaften etwa gleich hoch sind. Die Menschen tun es so oder so, wenn sie verzweifelt genug sind, unabhängig von der Berichterstattung.

Berichtet wird nur, wenn es sich nicht vermeiden läßt, weil der Sprung vom Hochhaus so spektakulär war und ohnehin schon 20 Leute mit Foto-Handy vor Ort... Über Verkehrsunfälle wird hingegen täglich x mal berichtet. OK, Leichen dürfen nicht gezeigt werden, aber ein Autowrack oder ein einsamer, blutiger Turnschuh, der auf der Überholspur liegt, gerne. Das gruselt so angenehm.

Ebenso schlimm finde ich, dass in D zwar das Selbstbestimmungsrecht des Menschen auch über den eigenen Tod ein hohes Gut ist, das unbestritten über moralisch-religiösen Fragen steht (auch wenn Kirchenvertretern das nicht gefällt). Nicht zufällig ist in D der Suizid(versuch) schon lange nicht mehr strafbar, und die passive Beihilfe dazu auch nicht. Aber dieses Selbstbestimmungsrecht ist eher theoretisch, weil es bei Todkranken oft nicht respektiert wird. Patientenverfügungen (die oft den Wunsch nach "passivem Suizid" festschreiben, durch Verweigerung von Behandlung oder künstlicher Ernährung), werden gerne und häufig ignoriert. Sogar bis zum BGH wurde darüber schon vor ewigen Zeiten prozessiert (mit faulem Kompromiss als Urteil).

Und wenn jemand noch physisch in der Lage ist, Suizid zu begehen, dann wird es ihm verwehrt, in Würde zu Sterben. Natürlich darf sich jeder das Leben nehmen. Sich aus dem 4. Stock stürzen, erschiessen, erhängen, vor den nächsten Baum fahren... Aber in Würde heisst für mich, dass eine humane Art der Selbsttötung möglich ist, mit der auch die Angehörigen besser leben können. Das ist nunmal die Überdosis Nembutal / Seconal - die Tötungsart, wie sie in Holland und der Schweiz bei der aktiven Sterbehilfe praktiziert wird. In D und weiten Teilen der "zivilisierten" Welt ist dieses Medikament nur noch zum Einschläfern von Tieren erhältlich. Und wer keinen korrupten Landtierarzt kennt, der sein Giftbuch fälscht und einem eine Ampulle abgibt, kommt da nicht ran.

Über die nächstbesten humanen Methoden (Medikamente, Helium, Plastiktüte) wird in D auch sorgsam geschwiegen. Fachliteratur wie das "Suicide Handbook" sind in D zwar nicht verboten. Noe, aber sie werden ignoriert. Trotz internationaler ISBN bei Libri nicht gelistet und bei Amazon.de nicht zu kaufen. OK, diese Art der Zensur ist für den versierten Internet-Nutzer kein Problem. Bestellt er halt bei Amazon USA, die liefern weltweit. Aber traurig bezeichnend für den Umgang mit diesem Thema in D finde ich das schon.

"Humane" Selbsttötung heisst für mich möglichst friedlich, schmerzfrei, einfach praktizierbar, legal - und für die Angehörigen "erträglich". Meint u.a., dass ein Toter so aussehen sollte, dass die Hinterbliebenen ihn bei Aufbahrung noch ansehen und von ihm Abschied nehmen können. Und im besten Fall, dass die Angehörigen gar nicht merken, dass ein Suizid vorliegt, damit sie ohne Schuldgefühle weiter leben können. Das ist in D praktisch verboten, weil die Mittel dazu verboten sind.

Die Alternativen? Eine habe ich gerade vor ein paar Wochen erlebt, Freitag morgen um 9.20 Uhr, als ich bei uns im Hof sass. Wir wohnen direkt am Bahnübergang, und die Strecke verläuft so 100 m lang direkt an unserem Grundstück lang. Da hupt der Lokführer ein paar Sekunden, dann eine Sekunde Stille, und dann dieses dumpfe Aufprallgeräusch - wie wenn man gegen einen Pappkarton tritt. Dann Bremsen kreischen, Stillstand, und mein Hund, der völlig durchdreht. Mit eingekniffenem Schwanz und in die Luft gereckte Nase in den Garten läuft, direkt am Zaun Richtung Bahn Sitz macht und jault ohne Ende. Dann Polizei, Bahnpolizei, Rettungswagen, Leichenwagen, usw. Ich habe mir das nicht im Detail angesehen, sondern meinen Hund zurückgerufen und das Tor zum Garten zugemacht. Ich weiss nicht, wie weit Leichenteile fliegen, wenn jemand mit 150 km/h vom Regionalexpress zermalmt wird. Aber die 5 m von Gartenzaun bis Geleis waren mir zu wenig, um nachzusehen. Und ich habe den Garten auch danach tagelang nicht betreten, obwohl die Polizisten, die ihn gründlich nach Überresten durchkämmt hatten, meinten, da wäre ganz sicher nichts.

Erschiessen ist auch lustig. Meine Jugendliebe hatte einen WG-Mitbewohner, der sich im Sommer, als er am Wochenende allein war, in der Wohnung den Kopf mit der Schrotflinte weggeschossen hat. Man muss kein Pathologe sein, um sich vorstellen zu können, wie groß die Fliegenmaden schon sind, wenn man jemanden findet, der bei 30°C zwei Tage lang tot in der Wohnung liegt. Diesen Anblick vergisst kein Mensch, lebenslang nicht. Über ähnlich "humane" Tötungsarten wissen alle Bescheid, die damit zu tun haben. Wie mein Cousin als Polizist oder meine Schwester als Krankenschwester in der Intensivmedizin. Die freuen sich immer wieder besonders auf Dienst an Weihnachten...

Was bleibt, human und selbstbestimmt? Nicht viel. Wenn man noch kann, ist der vorgetäuschte Autounfall eine gute Wahl. Da können sich alle vormachen, dass es sich um einen Unfall handelt. In Zeiten moderner Sicherheitstechnik im Auto allerdings immer schwieriger (die Airbags in meinem Auto sind deaktiviert, befreundete KFZ-Bastler sei Dank). Für Todkranke bleibt wohl nur der passive Suizid durch Nahrungsverweigerung. So wie meine Frau die parenterale (künstliche) Ernährung abgelehnt hat. Wäre der Krebs nicht schneller gewesen, wäre sie halt (nachdem sie schon > 30 kg abgenommen hatte) spätestens in 3 Monaten verhungert. Diese Methode ist legal. Aber ob sie für den Sterbenden humaner ist als eine rechtzeitige Überdosis Nembutal, möchte ich doch sehr bezweifeln...

Viele Grüße,
Stefan
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