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Alt 25.08.2006, 19:39
aufwachen aufwachen ist offline
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Registriert seit: 17.08.2006
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Standard AW: Krebskinder werden erwachsen

Liebe Ladina,

ein übergeordneter Titel des irgendwann mal fertigen Buches wird... "Alles wird gut?"... plus ein weiterer noch nicht festehender Zusatz sein. Einen großen Teil der entstehenden Zeilen möchte ich dazu verwenden auch und gerade über die Gradwanderung zu schreiben.

Die Gradwanderung zwischen Leben und Tod, zwischen positiven Auswirkungen und negativen Überbleibseln, über die Zerissenheit im erwachsenen Alter, die durch einen so frühen und harten Einschnitt im Leben eines noch so jungen Menschens ausgelöst worden ist. Die Gradwanderung, wie du sie beshrieben hast.

Ich konnte im zarten Alter von 2 jahren eines Tages nicht mehr aus dem Bett aufstehen, mich aufrichten, ohne das ich das ganze Haus vor Schmerzen in Grund und Boden geschriehen habe. Nach einer wahren Arztodysee in der nichts gefunden wurde und einzig meinen Eltern erzählt worden ist, dass "der Junge simmuliert", "der hat nichts", wurde ich in ein Krankenhaus in der Nähe von Frankfurt am Main stationär eingewiesen. Irgenwann nach unzähligen Röntgenaufnahmen von vorne, von hinten, vom Rücken, vom Becken, kam ein Arzt drauf vielleicht mal eine Aufnahme von der Seite auf das Becken zu machen. Erst bei dieser Seitenaufnahme erkannten die Ärtze den noch jungen und nicht sehr großen Tumor im Steißbein. Auf einmal haben alle verstanden warum ich beim aufrichten meinens Körpers so schreien mußte.

Die erste Maßnahme des Arztes was das Eingipsen, will heißen, ich wurde von den Oberschenkeln bis zum Halsansatz auf dem Rücken liegend komplett in eine Gipsschale eingebettet und zugegipst. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und wurde somit absolut ruhig gestellt. Wenn ich auf Toilette mußte, kam eine Schwester oder meine Eltern und haben mich hochgehoben und eine Schale drunter gestellt, denn am Po und vorne waren zwei Löcher für diese Dinge eingelassen (das ist Abhängigkeit von anderen Menschen pur!)... 1966 waren wahrlich andere Krankenhauszeiten!!

Dieser Zeitraum und ein dazugehörender OP Traum stehen bei mir als der Beginn meines Lebens. Es ist nicht das Lachen im Kindergarten oder der Spaziergang mit meinen Eltern im Zoo, nein, das sind meine ersten Bilder und die dazugehörenden Gefühle meines Lebens! Der Beginn der Reise fing da an!

Ich habe all diese Dinge erst nach und nach aus meinen Eltern rausbekommen. Einige Bilder und Erinnerungen aus den so frühen Erlebnissen sind auch bei mir noch immer präsent und geben aber erst heute nach so langer Zeit ein vollständiges und geschlossenes Bild ab.

Warum beschreibe ich dir diese Erstbegegnung mit dem Tod so ausführlich?

Es ist die von dir beschriebene Gradwanderung, die ich wohl auch nie wieder in meinem Leben verlieren werde. Neben den von mir heute dankbaren positiven Dingen die aus der Krankheit entstanden sind gibt es natürlich auch nicht so schöne Auswirkungen.

Mit diesen Auswirkungen habe ich, seit ich denken kann, immer wieder zu tun und muß manchmal arg kämpfen. Noch heute habe ich das ein oder andere Mal so ein Gefühl, dass ich nicht in der Lage bin mich bewegen zu können. Es ist so, als ob meine Beine in Zement feststecken würden und ich mich weder vor, noch zurück bewegen kann. Ich will mich bewegen, aber dieses Gefühl und das Bild der Gipsschale halten mich auf der Stelle und lassen mich im Stillstand verharren. Es ist so, als ob etwas in mir ganz tief drinnen steckt, es irgendwie nicht zu mir gehört, ich es gar nicht mehr haben will, es aber auch nicht weggeht; Ich galube, die Gipsschale als Schatten auf meinem Rücken zu spüren.

Es gibt Zeiten, da bin ich voller Wut. Ich bin wütend auf die Welt, ich bin wütend auf die Krankheit. Ich ertappe mich dabei, wie ich manchmal neidisch auf andere schaue, auf Dinge, die Sie einfach so machen. Machen, ohne sich vorher erst mit dem Kampf des Durchringens auseinandersetzen zu müssen.

Mein Bruder ist in etwa wie deine Schwester. Meine Mutter sagt, dass er das Sonntagskind sei. Er läuft, sage ich, durchs Leben und die Dinge richten sich bei ihm immer von alleine. Auch er hat seine Krisen, wohl wie jeder einigermaßen hinterfragende Mensch, aber für mich sind das eher Kleinigkeiten. Ich glaube, dass er in seinem ganzen Leben gerade mal drei Bewerbungen für irgend etwas geschrieben hat. Er ist älter als ich. Ich habe ihn immer neidisch bewundert, denn er hatte alles, was ich immer wollte. Er hatte immer seinen großen und gewachsenen Freundeskreis. Ihm ist immer alles leicht gefallen, einfach so in den Schoß. Heute liebe ich ihn nichts desto sehr, wir sind miteinander verbunden und wir sind uns sehr nah geworden. Er ist heute einer der wichtigsten Bestandteile meines Lebens, dennoch, manchmal macht er mich wütend, sehr sogar.

Ob sich all diese Dinge jemals in ruhigere Gewässer schieben lassen, kan ich nicht beantworten. Es fällt mir schwer, das Ding mit der Krankheit zu akzeptieren. Ich habe Sie nicht ausgelöst und ich habe sie schon gar nicht haben wollen. Ich habe ihr nicht guten Tag gesagt und ihr den Einlass in meine Wohnung gewährt. Es ist, als ob ich einen schweren Rucksack auf dem Rücken habe und dieser ist im Lauf des Zeit immer schwerer geworden. Das Tragen wird immer schwieriger, also löse ich ihn vom Rücken, stelle ihn vor mich hin, mach ihn auf und muß mir die ganze Sch.. die da drin steckt angucken obwohl ich diese Sachen dort gar nicht reingelegt habe, ich sie auch gar nicht drinhaben wollte.

Du siehst,

es bleibt, liebe Ladina, auch weiterhin spannend in unserem Leben, ob wir es wollen oder nicht.

Bis sicher demnächst

Pass gut auf dich auf

Sei gut beschützt

Es grüsst dich

Rainer
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