Einzelnen Beitrag anzeigen
  #28  
Alt 08.12.2002, 20:54
Gast
 
Beiträge: n/a
Standard Liebe Angehörige von Krebspatienten

Hallo liebe Anne,
ja, es läuft noch oftmals ganz andersrum, als man meint.
Nun, da ich selber Krebsbetroffene bin, kann ich Dir als erstes mal folgendes erklären, damit Du vielleicht ein bisschen verstehen kannst, was Deine Mutter durchmacht.

Angehörige machen Ähnliches durch, aber wenn es einen selbst betrifft, ist es irgendwie verwirrend, makaber, komisch. Du hast das Gefühl, Du stehst völlig neben Dir selbst und schaust da einem Film zu. Nebst dem Schock kommt der Unglaube, dann kommt Verdrängung, dann kommt plötzlich mal Gleichgültigkeit, dann wieder panische Angst. Während Du noch immer diesem "Film" von Dir selber zuschaust, bist Du wie gelähmt!
Und in der Phase der Angst und des Unglaubens kann auch mal dieses "Weigern" kommen. Du willst Dich weigern, überhaupt erst zum Arzt zu gehen. Ins Krankenhaus zu gehen. Diese Behandlungen über Dich ergehen zu lassen. Diese ernsten Gesichter der Ärzte auf Dir zu spüren. Dieses Gefühl zu spüren, dass da "Fremde" plötzlich über Dein Leben zu bestimmen scheinen, welches da wegen IHNEN auf einmal völlig aus den Fugen gerät! Sie krempeln Dir den ganzen Alltag um! Und sie machen Dir Angst. Du weisst, dass es nicht an ihnen liegt, aber Du willst da gar nicht erst in dieser Situation sein, und das alles durchmachen müssen. Du willst nicht, dass Du Krebs hast! Das darf einfach nicht sein. Daran könntest Du sterben. Vielleicht schon bald. Das willst Du nicht. Davor hast Du Angst. - Und trotzdem weisst Du, dass es so ist. Du weisst auch, dass Du was dagegen tun musst. Aber Du WILLST nicht! Also weg mit diesen Gedanken, weg mit diesem Wort "Krebs", also gar nicht erst darüber reden! Und überhaupt: Am liebsten "weg" mit Dir selber, abhauen auf eine Insel, weg von all den Sorgen und diesem neuen Leid!

So in etwa fühlt man sich, Anne. Man fühlt sich aber auch so, wenn man NICHT einfach schweigt, wenn man trotzdem immer brav zum Arzt geht, wenn man all dies durchsteht, wenn man kämpft und weitermacht.
Nun wird es wohl eine Frage sein, was für eine Art Mensch man ist, wie man VOR dem Krebs schon war. Vielleicht war man immer schon ein Kämpfer, dann wird man vermutlich auch bei der eigenen Krebsdiagnose zu kämpfen anfangen. Vielleicht war man aber schon immer ein ruhigerer Mensch, oder jemand, welcher die Dinge gerne mal "verdrängt" hat, ... so wird man vermutlich auch bei einer Krebsdiagnose so vorgehen.
Aber nichts, liebe Anne, ist die Regel. Denn Krebs kann auch ein "Wechsel" bedeuten. Es kann ein neues "Denken" anfangen, wie man vorher noch nie so gedacht hat. Man kann Dinge erkennen, die man vorher nie so gesehen hat. Man kann anfangen, in sich hinein zu horchen, wie man es noch nie zuvor getan hat.
Aber all dies braucht Zeit. Es geht nicht von heute auf morgen. Es können Phasen sein. Wochen, aber auch Monate.
Aber Änderungen kommen. Irgendwie jedenfalls.

Ja, und dann kommt noch das "Selbstbestimmungsrecht" dazu, wenn ich das mal so formulieren darf. Da möchte ich Dich gerne noch fragen:
Wie stark ist Deine Mutter, und war sie vielleicht schon immer etwas eigensinnig? Vielleicht ist es ja wirklich ihr Wunsch, überhaupt keine Behandlung machen zu lassen? Wie gut kennst Du Deine Mutter?
Wenn dem so wäre, so wären die ganzen Behandlungen, die Arztbesuche, ihre eigenen Angehörigen, ... alles nur eine Art "Druck" machen! Beugt sie sich diesem "Druck" und gibt somit bloss nach? (Auch wenn Eure Hilfe gut gemeint ist, Anne, das ist kein Vorwurf, gell? Ich kenne das bloss von meiner Situation her selber).

Oder lebt sie wirklich in völliger Angst?
Kann nämlich sein, dass sie sich in diesem "Film" befindet, welchen ich Dir oben beschrieben habe. In diesem Falle wäre Euer Dasein ebenso wichtig, denn hier braucht sie Euch ganz dringend. Sie braucht da nämlich Eure Geduld, wenn sie sich wieder mal "weigert". Sie braucht Euer Verständnis (keine Vorwürfe oder ein Drängen). Vielleicht braucht sie ein paar "Verlockungen"? Kleine Versprechen, dass man sie so und so oft besuchen kommt? Kleine Belohnungen mit Dingen, an denen sie sich freut? Kleine Ablenkungen in ihrer schwierigen Zeit? Vielleicht braucht sie Ärzte, die lächeln können? Vielleicht interessiert sie ein "per Zufall" liegengelassenes Buch über Krebs, was ihre Neugier, ihren Kampfgeist wecken könnte?

Versuche es heraus zu finden, liebe Anne. Klar, sie ist keine "bequeme" Patientin für die Ärzte (und für Euch wahrscheinlich auch nicht), aber irgendwo liegt der Grund für all ihre "Weigerungen" oder ihre "Gleichgültigkeit". Frage sie, was sie möchte und was sie sich wünscht. Vielleicht kann sie es Dir sagen?

Ich jedenfalls wünsche Deiner Mutter eine Menge Kraft, viele positive Erlebnisse und Gesundheit.

Alles Gute an Dich
von der "krassen" Brigitte

PS: Das Thema hier habe ich vor einiger Zeit mal aufgesetzt. Da es bei meinem Namen aber hin und wieder Verwechslungen mit anderen Brigittes geben kann, bleibe ich künftig nun beim "Känguruh" und bei "krasse" Brigitte. - Bloss zur Info, ja? - Bis dann!
Mit Zitat antworten