Einzelnen Beitrag anzeigen
  #8  
Alt 11.02.2005, 20:12
Gast
 
Beiträge: n/a
Standard Anmerkungen eines Onkologiepflegers

lieber steve,

danke für deinen beitrag! ich denke auch, dass es menschen gibt, auf die dein beitrag sehr gut passen würde. es gibt tatsächlich leute, die jeden arzt potentiell für ihren feind halten.
ich kann dir versichern, das tue ich nicht. aber ich hatte in den letzten jahren sehr viel mit ärzten zu tun, nicht nur in bezug auf krebs. ich habe viele menschen gepflegt und teilweise auch verloren, die mir sehr nahe waren, war selbst patientin und habe vor kurzem den mir liebsten menschen auf der welt an krebs verloren. du hast sicher recht, wenn du sagst, dass ärzte helfen wollen. aber mach auch bitte mal die augen auf!
meine erfahrungen (in dutzenden krankenhäusern der verschiedensten größen und kategorien in drei ländern) waren immer die gleichen: in dem moment, in dem man in einem krankenbett liegt, hat man jede autorität verloren. da steht jemand im weißen kittel vor einem, an seinem arbeitsplatz, hält informationen über leben und tod in der hand, während man selbst im nachtkittel, mit fettigen haaren und blasser haut, schwach und ängstlich im bett liegt! ich habe NIE von einem arzt oder einer ärztin erwartet, dass er oder sie persönlich betroffen ist. ich weiß, dass das mehr schädlich als nützlich wäre. schließlich ist es ihr job, sie können nicht mit jedem mitleiden. aber ehrlich, ein bisschen mitgefühl wäre auch nicht schlecht.
mir ist auch klar, dass es nicht die schuld der ärzte ist, dass prinzipiell zu viele patienten, zu viel arbeit, zu wenig zeit, zu wenig geld da ist.
und trotzdem: fast alle machten auf mich den eindruck, als hüten sie ihre informationen wie einen schatz, den man ihnen durch fragen entreißen muss. du wärst überrascht, wie oft ärzte unwillig reagierten, wenn die fragen zu lange dauerten, wenn man etwas definitives wissen wollte oder eine entscheidung anzweifelte oder hinterfragte. nur wenige forderten uns auf, fragen zu stellen. so oft kam einer herein, den wir vorher noch nie gesehen hatte, warf sein bündel information ab und schwebte wieder von dannen. wenn man dann jemanden sprechen will, ist ein anderer zuständig, der teilweise keine ahnung hat, was der davor gesagt oder getan hat. so oft kam es zu verwechslungen, wurde ein patient versehentlich zwei mal zum röntgen geholt, bekam zu oft blut abgenommen, jemand hat auf die schmerzmittel vergessen, ... das könnte ich ewig weiter aufzählen.
wir sollen fragen stellen, steve? leg dich mal eine stunde in eines dieser kurzen betten mit den metalgittern oben und unten, stell dir vor, du kannst nicht mehr selbst aufs klo gehen, lass dir von einem deiner kollegen den hintern abwischen oder drück auf die klingel und stop die zeit. stell dir vor, du hast acht beutel auf dem ständer neben dem bett und keine ahnung, was da durch kabel und schleuche in deinen körper rinnt. versuch dir vorzustellen, wie es sich anfühlt, wenn dieser körper, dem du so lange vertraut hast, dich plötzlich betrügt und gegen dich arbeitet. versuch dir vorzustellen, dass er um dich herum stirbt und dich beenden wird und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst. du wirst nie wieder in der sonne liegen, fahrradfahren, essen, in einer kneipe sitzen. du wirst dieses zimmer und dieses bett nie wieder verlassen. deine finger, die gitarre spielen konnten, deine beine, die laufen konnten, dein mund, mit dem du deine kinder geküsst hast, all das ist plötzlich nutzlos, nur noch ein stück fleisch, das schon anfängt zu zerfallen.
wann unterbrichst du diesen gedankengang, um fragen zu stellen? wann ist der perfekte zeitpunkt? wenn man dir, der du noch fünfzig jahr leben erwartet hast, sagt, dass du sterben wirst? wenn du eine therapie machst, die dir die hölle von innen zeigt? wenn der tod unabwendbar vor dir steht? auf welche frage beschränkst du dich?
wird es sehr weh tun? warum ich? was kommt danach? was wird mit meinen lieben? werde ich allein sein, wenn es so weit ist?
wenn ich es recht bedenke, steve, dann stell dir das alles doch nicht vor. du brauchst ein paar scheuklappen und etwas stahl um dich, um nicht zusammenzubrechen. du hast einen unglaublich schweren job. ich bin dankbar, dass du ihn machst. ich könnte es nicht und bewundere dich dafür.
aber bitte, bitte, sag niemandem, der krebs hat, was er fühlen oder denken oder wie er sich verhalten soll. du bist nicht in der lage, ihn zu verstehen. du darfst es gar nicht.
lächle deinen patienten hin und wieder mal zu und schau ihnen in die augen. dazu hat kaum ein pfleger oder arzt je den mut. nimm ihnen nicht da gefühl, menschen zu sein, die mehr sind, als das, was du am ende vor dir siehst in diesen betten. da liegt jedes mal eine ganze welt. ich weiß, was ich sage, meine welt hat in so einem bett geendet.
Mit Zitat antworten