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Alt 13.06.2002, 20:50
Gast
 
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Standard Sie will das ich gehe!!

Hallo Li und Brigitte!

Liebe Li, in meinem Fall ist es so, dass mein Vater Alkoholiker ist; wir wissen es seit ich ca.11 Jahre alt war (bin jetzt 42). Er war aber nie aggressiv, und hat immer mit allen Mitteln (und Hilfe meiner Mutter) dagegen angekämpft. Aber ich bin in die Pubertät gekommen, habe meine Mutter oft weinen gesehen (wenn wieder einmal ein Rückfall war), und habe so meinen Vater nicht mehr als Vorbild gesehen. Im Gegenteil ich habe ihn dafür verachtet, obwohl er seinen Job immer sehr verantwortungsvoll erledigte (und er hatte viel Verantwortung), und auch sonst für die Familie gut sorgte.
Ich habe zwar kein Wort gesagt, aber ich habe ihn meine Verachtung spüren lassen. Und ich weiß dass er es gespürt hat.

Damals hatte ich noch keine Ahnung, was für ein endloser harter Kampf eine Suchterkrankung ist; das habe ich erst langsam während meiner medizinischen Ausbildung begriffen. Heute bewundere ich ihn, dass er nach jedem Rückfall wieder gekämpft hat. Aber mit ihm darüber gesprochen haben weder meine Schwester noch ich bis heute. Denn jeder Rückfall den wir mitbekamen (als wir noch zu Hause wohnten), war ihm furchtbar peinlich und hat an seinem Selbstbewußtsein genagt.

Wie dankbar ich ihm für seine Nierenspende bin weiß er. Aber kaputte Nieren zu haben ist ja in den Augen der Gesellschaft auch keine Schande; ein Alkoholproblem zu haben aber schon. Aber das gehört jetzt nicht hier her.

Mein Mann ist Pathologe und spezialisiert auf Gastroenterologie, wo eben auch das Pankreas dazugehört. Es ist da, was meinen Vater betrifft, wirklich schwierig Hoffnung zu bewahren. Denn der Tumor ist ca 15cm im Durchmesser, und hat sich bereits auf sämtliche Organe in der Umgebung ausgebreitet (wurde sehr lange durch die Pankreatitis verschleiert). Dazu kommt der schlechte Ernährungszustand - auch bedingt durch die Pankreatitis, und sein Alter (72).
Ein jüngerer Patient mit gutem AZ kann da sicher noch mehr Kräfte mobilisieren.

Es wäre mir ein dringendes Bedürfnis mich für mein Verhalten damals zu entschuldigen (ups da haben wir ja wieder die Schuldgefühle), und alles zu klären, auch wenn wir uns jetzt sowieso sehr nahestehen.

Doch (und das habe ich vorher gemeint) wenn man Jahrzehnte nicht über so ein Thema gesprochen hat muss es meinem Vater merkwürdig vorkommen, wenn ich jetzt kurz nach dieser Diagnose damit komme.
Er hat nämlich die Ärzte nicht nach Prognosen oder Überlebenszeiten gefragt, und sie haben nichts gesagt. Ich gehe also davon aus, dass er durchaus hofft, diesen Krebs zumindest stoppen zu können.
Und irgendwie kommt mir dieses (mein)Aufarbeiten wollen eben wie ein beginnendes (ungewolltes) Abschiednehmen vor - denn wüssten wir die Diagnose nicht würde ich wahrscheinlich auch in Zukunft nicht über das oder Änliches sprechen.
Sicher kann man sagen, ich will nur mein Gewissen erleichtern. Doch ist es nicht normal sich zu entschuldigen wenn man glaubt Schuld auf sich geladen zu haben? Es hätte allerdings schon längst erfolgen sollen.
Aber es gibt halt Dinge, über die zu sprechen einem so schwer fällt, dass man den leichteren Weg geht und es immer wieder hinausschiebt, bis einem die Endlichkeit bewußt wird.

Übrigens danke Brigitte, dass du uns schon unsere Briefchen vorschreibst - finde ich echt lieb.

Liebe Grüße an euch
Afra
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