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Alt 23.09.2016, 16:14
Frohlein Frohlein ist offline
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Standard Im Herzen für immer

Nur schwer kann ich meine Gefühle in Worte fassen. Zu früh habe ich dich verloren, Mama. Aber dennoch weiß ich es geht dir dort wo du jetzt bist besser. Du musst nicht mehr leiden.
Aber doch ist so vieles falsch gelaufen.
Am 6.9. hast du aufgehört zu atmen und deine Augen für immer geschlossen. Nicht zuhause, sondern im Hospiz. Wir dachten immer du möchtest zuhause sterben, aber sicher waren wir uns nicht, denn keiner sprach über dieses Thema. Du wolltest das nicht. Dein einziger Wunsch war es eine Erdbestattung zu bekommen. Den Rest sollten wir dann regeln.
Du hinterlässt einen Ehemann, zwei Töchter, zwei Enkelinnen und zwei Schwiegersöhne. Wussten wir doch, dass der Krebs dich uns irgendwann nehmen wird, so geschah es dann doch so plötzlich.
Ich machte mir nie sonderlich viele Gedanken über den Tod, schon gar nicht übers Sterben an sich. Erst jetzt wird mir richtig klar, dass dein Herz nicht einfach so aufgehört hat zu schlagen, sondern dein Sterbeprozess schon viel früher begann. Vielleicht am 2.8.13, als du die Diagnose Lungenkrebs bekommen hast? Nach der ersten Zeit des Schocks über diese Diagnose war doch noch Hoffnung da? Die OP war erfolgreich, keine nachgewiesenen Metastasen, lediglich ein befallener Lymphknoten von etwa zwei dutzend untersuchten. Du hast dich schnell erholt. Neuen Mut geschöpft. Eine kraftraubende und schmerzhafte Chemotherapie begonnen, die dich die Wände hochgehen ließ. Wir konnten dir nicht helfen. Nur da sein und dir beistehen. Das ist wichtig und viel wert, aber eine wirkliche Hilfe? Machtlos daneben zu stehen und nicht eingreifen zu können? Dir die Qual nehmen? Ich bin mir nicht mal sicher, ob wir es dir erträglicher machen konnten. Ich muss an die Worte meiner Hebamme denken, die meinem Mann einige Wochen vor der Geburt unserer Tochter sagte, es würde sehr schwer für ihn werden. Denn er wird meine Hand halten und mir versuchen durch die Wehen und den Schmerz zu helfen. Aber es wäre ein sehr einschneidendes Erlebnis neben einer Person zu stehen, die man liebt und deren Leid man miterlebt ohne helfen zu können.
Ähnlich wie mein Mann sich gefühlt haben muss, fühlte ich mich seit der Diagnose meiner Mutter. Hilflos.
Noch im selben Jahr bekam ich einen Heiratsantrag, der mir so unendlich viel bedeutete. Nach der Diagnose war ich fast ausschließlich bei meinen Eltern und versuchte sie zu unterstützen. Es blieb kaum Zeit für die Partnerschaft. Es hätte sich also auch in eine ganz andere Richtung entwickeln können. Ich war überglücklich. Und wurde auch schon bald schwanger. Meine Mutter brauchte sehr lange um sich über diese Nachricht freuen zu können. Ihre Reaktion auf meine Schwangerschaft war sehr heftig und bedeutete für mich einen tiefen Einschnitt in meiner Beziehung zu ihr. Ich war trotzdem für sie da, weil ich mich dazu verpflichtet fühlte. Auch wenn ich es vermutlich nicht war, ich konnte nicht anders. Doch innerlich begann ich mich von ihr zu distanzieren.
Im Frühjahr 2014 heirateten mein Mann und ich schließlich nur zu zweit vor dem Standesamt. Am selben Tag wurden bei einem Kopf MRT Hirnmetastasen bei meiner Mutter festgestellt, nachdem es Auffälligkeiten in ihrem Sehvermögen gab.
Wir gaben die Hoffnung dennoch nicht auf. Es folgten Ganzhirnbestrahlungen. Und es wurde besser. Im Herbst 2014 kam meine Tochter zur Welt und machte nicht nur meinen Mann und mich zu Eltern, sondern auch meine Mama und meinen Papa zum zweiten Mal zu Großeltern. Die Freude war groß, auch wenn meine Mama zu diesem Zeitpunkt motorisch schon nicht mehr ganz fit war.
Es folgten bessere Zeiten, bis 2015. Dann wurden Lungenmetastasen entdeckt und später auch böse Zellen in ihren Knochen. Also kamen wieder Chemotherapie auf Mama zu. Anfangs vertrug sie diese sehr gut, später brach sie unter ihr und den wieder wachsenden Hirnmetastasen ein. Es folgte ein längerer Krankenhausaufenthalt an dessen Ende sie sich zwar wieder stabilisiert hatte, die Ärzte uns jedoch mitteilten, dass man in Zukunft im Krankenhaus nichts mehr für sie tun könne. Sie kam nach Hause. Eine zeitlang kamen der Pflegedienst und Mitarbeiter eines Palliativdienstes. Es wurde wieder schlimmer. Ihre Beine gaben unter ihr nach, sie bekam zur Unterstützung einen Rollator. Sie verlernte nach und nach das Laufen, saß im Rollstuhl. Das letzte halbe Jahr, wenn ich mich richtig erinnere. Mama war eine sehr stolze und eitle Frau gewesen und versuchte sich diese Eigenschaften bis zum Schluss aufrechtzuerhalten. Sie beschwerte sich selten. Tagsüber wollte sie eigentlich nie liegen, nur im Rollstuhl sitzen. Um irgendwie die Kontrolle behalten zu können, sagte mir unsere Hausärztin.
Hatte das Sterben vielleicht da begonnen? Als sie das Laufen verlernte? Oder später, als sie ohne Hilfe auch nicht mehr essen und trinken konnte? Rund um die Uhr auf ihren Mann angewiesen war, der sich bis zum äußersten für sie aufopferte? Alles für sie tat? Pflegeurlaub nahm um NUR noch für sie dazu sein?
Häufig ärgerte ich mich darüber und empfand ihr Verhalten als egoistisch. Denn sie verlangte soviel von ihm. Zu viel. Heute fühle ich mich für diese Gedanken elendig schlecht, denn sie suchte doch wohl einfach Halt. Obwohl sie sehr gläubig war, hatte sie so wahnsinnige Angst vor dem Tod. So oft sagte sie, sie will nicht sterben. Sie wollte ihre Enkelkinder aufwachsen sehen. Sie wollte meinen Papa nicht alleine lassen, weil er doch nicht ohne sie könne.
Wir fragten sie häufig, ob wir was gutes für sie tun könnten. Sie wollte nur wieder gesund werden. Wie gerne hätten wir ihr diesen Wunsch erfüllt.
Ich fragte mich so oft ob sie wirklich an eine Heilung glaubte. Sie kämpfte über drei Jahre gegen dieses Monster und konnte sich bis zuletzt nicht mit ihrem Schicksal abfinden. Es akzeptieren. Das machte es auch sehr schwierig über die Situation und ihre und unsere Ängste zu sprechen. Das mache ich ihr nicht zum Vorwurf, wer will sich schon damit freiwillig auseinandersetzen. Dennoch denke ich, es hätte uns als Familie sehr geholfen.
Nie werde ich ihre Augen und den Ausdruck darin vergessen, als sie die Diagnose bekam. Seitdem hat sich der Ausdruck darin auch nur sehr selten geändert. Meistens sah man wirklich einfach nur die pure Angst. Es zerreisst mir bis heute das Herz.
In den letzten Wochen vor ihrem Tod sprachen meine Schwester und ich häufig mit meinem Papa über eine Anmeldung im Hospiz. Mein Vater hatte Mama versprochen sie zu hause zu pflegen, solange er es schafft. Erst wenn es gar nicht mehr geht, käme eine Einweisung ins Hospiz infrage. Nach langer Überdenkzeit gab Mama ihr Einverständnis. In meinen Augen ging es schon einige Wochen vor ihrem Tod nicht mehr und Papa lief nur noch auf Reserve. Weil er musste. Weil er sie nicht im Stich lassen wollte. Weil er sie liebt.
Mir fiel es doch auch nicht leicht, ich wollte sie doch auch nicht „weggeben“. Aber die letzten Wochen waren für beide nur noch die reinste Qual und auch Papa ist nur ein Mensch. Und um ihn sorgen wir uns doch auch.
Schließlich kam er dann doch an seine äußerste Grenze und Mama kam ins Hospiz. An einem Montag. An dem Montag flogen ich, mein Mann und unsere Tochter in den Urlaub. Ich fühlte mich so unwohl zu verreisen, wusste ich doch, dass meine Mama ins Hospiz kommt. Gleichzeitig verspürte ich auch Erleichterung weil sich endlich was tat. Nachdem ich mit Papa gesprochen hatte war klar, dass wir fahren. Wir wollten Mama nach unserem Urlaub gemeinsam im Hospiz besuchen. Noch bevor wir uns zum Flughafen aufmachten sass ich hier zuhause und war völlig aufgelöst und konnte es mir nicht so recht erklären. Am Flughafen wurde kurz vor dem Boarding unser Flug abgesagt und alle Passagiere sollten per Bus zu einem anderen Flughafen gebracht werden um von dort zu fliegen. Ich dachte noch: das ist ein Zeichen! Nehmt eure Koffer und fahrt wieder nachhause. Taten wir nicht. Wir flogen und kamen mit 7 Stunden Verspätung mitten in der Nacht im Hotel an. Wir schliefen ein paar Stunden und ich fühlte mich wie Matsch am nächsten Morgen. Ich hatte so ein richtig ungutes Gefühl.
Nach dem Frühstück rief mein Papa an. Mama ist gestorben. Im Hospiz. Alleine. Er war gerade auf dem Weg zu ihr.
Ich war sprachlos. Wir packten wieder und fuhren zurück zum Flughafen und schafften es spät abends wieder da zu sein.
Ich bat darum Mama nochmal sehen zu dürfen. So war es und ich konnte mich am nächsten Tag von ihr verabschieden. Sie sah so friedlich aus. Der Schmerz der vergangenen Wochen und Monate war nicht mehr in ihrem Gesicht zu sehen. Ich dachte sie würde jeden Moment wieder aufwachen. Dann schlossen wir den Sarg. Für immer.

Wollte sie alleine sterben? Sie hatte immer solche Angst davor und wollte meinen Papa rund um die Uhr bei sich haben. Hat sie auf ihn gewartet? Oder wollte sie ihm diesen Moment nicht zumuten?
Papa macht sich solche Vorwürfe, dass er nicht bei ihr war. Er denkt er hat sie im Stich gelassen. Macht sich Vorwürfe, dass er nicht bei ihr geblieben ist über Nacht. Dabei kann gerade ER sich absolut keine Vorwürfe machen. Er hat doch alles für sie getan.
Auch ich fühle mich schlecht. Wie konnte ich denn in Urlaub fahren?
Aber was bringt es uns dies vorzuwerfen? Es ändert nichts an den Tatsachen. Mama kommt nicht wieder. Und es zerreisst mir das Herz. Sie ist nun erlöst und muss nicht mehr leiden. Wir waren für sie da und müssen nun lernen mit diesem Verlust zu leben.

Mama, ich denke jeden Tag an dich. Ich vermisse dich so sehr. Ich habe dir verziehen und ich hoffe du mir auch. Wir sehen uns irgendwann wieder. Ganz sicher. Ich liebe dich.
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