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Alt 05.12.2010, 12:26
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Blume68 Blume68 ist offline
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Standard AW: Die SCHÖNEN Dinge des Tages (sehen)

Liebe Erika, liebe Gabi -
danke für diese wunderschönen beiden Texte!
Es war ein Genuss, sie zu lesen.

Hier schneit es heute stark, aber eher matschig. Und morgen ist Nikolaus.
Da krame ich mal eine alte Geschichte raus, die ich so schön finde, dass ich heut noch fast heulen muss, wenn ich sie lese. Früher wurde sie uns oft vorgelesen - mich befallen heute immer noch die gleichen Gefühle...
(ich hoffe, sie wird hier in gedruckter Form nicht zu lang. Auch muss ich noch nachsehen, von wem sie ist.)

Allen einen schönen 2. Advent - und wie Erika richtig formulierte:
behaltet die Hoffnung!

Herzlichst
eure Blume


Unterm Schornstein

Ich war noch ein kleiner Junge und glaubte noch an den Weihnachtsmann. Nicht an den, der abends von Haus zu Haus geht, an die Tür klopft und fragt: "Sind die Kinder auch immer artig gewesen?" Den kannten wir damals noch nicht. "Der kommt zu den Leuten, die einen eisernen Herd haben und ein enges Ofenrohr" sagte die Mutter.
Nein, so weit waren wir noch nicht. Zu uns kam immer noch der andere, der mitten in der Nacht mit einem großen Sack übers Land und über die Dächer flog und überall, wo noch ein richtiger alter Herd war, etwas in den Schornstein warf.
Wir waren fünf Kinder im Hause, und ich war das kleinste. Und wir mussten am Abend vor Weihnachten jeder einen Teller auf den Herd stellen, alle schön der Reihe nach rund um das offene Ofenloch herum. "Nicht zu weit nach der Mitte", sagte die Mutter, "das sieht so unbescheiden und gierig aus. Und auch nicht so weit weg an den Rand, sonst kriegt man nichts".
Wir stellten unsere fünf Teller - jeder von uns hatte seinen eigenen Teller, und meiner war ganz besonders bunt - die stellten wir alle fünf in einem schönen Halbkreis vor das Feuerloch. Und dann beugten wir uns nochmals alle ganz weit über den Herd und guckten hinauf, ob der Schornstein auch wirklich offen war. Und dann sagten wir "Gute Nacht" und kletterten einer nach dem anderen in die Betten. - Mutter saß noch am Tisch und nähte. Mitten in der Nacht wachte ich auf, und ich meinte, da hätte etwas gebrummt oder geknackt und ich dachte: "Nun ist er eben - gerade eben - ist er vorübergeflogen und hat was in den Schornstein geworfen !" Und ich dachte: was das nun wohl gewesen ist ? Was da nun wohl liegt auf meinem Teller? Und weil ich meinte, ich könnte nun doch nicht wieder einschlafen und weil draußen ganz heller Mondschein war und alles war so still im Hause, so stand ich leise auf und schlich mich nach der Küche und guckte auf den Herd. Aber da war noch gar nicht viel zu sehen. Alle Teller waren noch leer.
"Dann musst du dich wohl verhört haben", dachte ich und wollte mich schon umdrehen und wieder ins Bett, da meinte ich plötzlich, dass mein Teller diesmal etwas weiter zurück stände als die anderen vier. Und weil ich doch gerade in diesem Jahr etwas ganz Schönes und auch recht viel vom Weihnachtsmann haben wollte und weil mich niemand sah und auch keiner etwas davon wusste, so stellte ich meinen Teller leise und vorsichtig ein ganzes Stück weiter nach vom und schob ihn mitten unter den offenen Schornstein. Dann ging ich schnell wieder in die Kammer und kroch unter die Decke.

Noch lange lag ich wach und wusste nicht, ob ich das nun so richtig gemacht hätte oder nicht. Aber dann dachte ich: "Ich steh' ganz früh auf, dass keiner etwas merkt. Und wenn es ganz schlimm wird und alles auf meinen Teller gefallen ist; dann kann ich ihnen ja noch immer etwas geben" - Dann schlief ich wieder ein. Als ich aufwachte, waren Jakob und Grete schon in der Stube, und Johann und Heiner standen schon am Fenster. Ich wollte mich leise an ihnen vorbeidrücken, aber - "Halt !" sagte die Mutter. "Wo willst du hin?" "Nur einmal sehen, ob was in meinem. Teller ... " - "Nein, hier bleiben! Und erst die Hose anziehen ! Und Strümpfe und Stiefel ! Und die Hände und den Hals waschen ! Wenn du fertig bist, gehen wir alle zugleich. Und ich gehe voraus, damit es nachher keinen Streit gibt." Ich muss wohl ein sehr unglückliches Gesicht gemacht haben, denn Grete guckte mich so komisch an und Johann sagte: "Nun, schau zu, dass du weiterkommst! Wir warten auf dich!" Es ging an diesem Morgen nicht so schnell, wie es eigentlich geben sollte, aber zuletzt war ich ja doch fertig und stand an der Tür und wollte hinaus.
"Halt !" sagte die Mutter wieder. "Erst komm ich, und ihr kommt alle hinter mir her! " - Und dann ging sie über die Diele, stand vor dem großen Herd und reichte uns unsere Teller. Sie freute sich bei jedem Teller mit. Johann hatte fünf schöne Apfel und wenigstens zwanzig Nüsse und vier braune Kuchen - und ein Paar neue Schlittschuhe; Grete hatte auf ihren Äpfeln und Nüssen und Kuchen eine schöne weiße Schürze liegen; Heiner ein dickes Märchenbuch, Jacob einen Baukasten. Und ich - ich hatte in meinem großen bunten Teller nur einen kleinen Apfel und eine Nuss und einen braunen Kuchen - und sonst nichts - kein Stück weiter.
"Ja was hat denn das zu bedeuten?" fragte die Mutter. Und sie suchte den ganzen Herd ab und guckte nochmals in den Schornstein, ob da nichts hängen geblieben war. "Wie kommt denn das ? Bist du denn nicht artig gewesen im letzten Jahr?"
"Doch ! " nickte ich nur, denn sagen konnte ich nichts. Mir saß ein großer Klotz im Hals. Und auch als meine Geschwister mich nun halb bedauerten und halb in heimlicher Schadenfreude aufzählten, was ich vielleicht angestellt haben konnte, schüttelte ich nur immer den Kopf: "Nein, nein - das ist es nicht." Nein, ich wusste es besser. Und die Mutter wusste es auch, das merkte ich - sie tat nur so. "Der Weihnachtsmann wird ja wohl wissen, warum", sagte die Mutter, "wir können weiter nichts tun. Ihr könntet ihm höchstens etwas von euren Sachen abgeben, wenn ihr mögt, aber recht ist es ja eigentlich nicht."
Grete und Johann gaben mir jeder einen Apfel. Heiner gab mir ein paar Nüsse. Jakob gab mir zwei braune Kuchen. "Und von mir kriegst du vielleicht auch noch was", sagte die Mutter, "sobald ich weiß, warum der Weihnachtsmann dich so kümmerlich bedacht hat."
Eine ganze Stunde drückte ich noch herum, dann ging ich zu meiner Mutter und sagte es ihr - leise, unter vier Augen: dass ich nachts aufgestanden wäre und dass ich meinen Teller vor die anderen vier und mitten unter den Schornstein gestellt hätte.

Die Mutter schüttelte den Kopf. Aber dann schaute sie mir still in die Augen und strich mir über den Scheitel. "Es ist gut", sagte sie, "wir wollen nun nicht mehr davon sprechen. Du darfst deinen Teller heute abend nochmals hinstellen - mitunter kommt ja der Weihnachtsmann wieder zurück." Ich stellte abends - ganz allein - meinen Teller wieder auf den Herd. Nicht direkt unter den Schornstein, aber auch nicht zu weit weg auf den Rand, sondern so halb bis zur Mitte, als ob noch vier andere Teller daneben ständen. Und ich hatte am nächsten Morgen vier schöne Äpfel, etwa zwanzig Nüsse und drei braune Kuchen, und obendrauf eine schöne, weiche, wollene Mütze - mit einer bunten Quaste. Ich habe mich ganz toll gefreut und habe sie lange getragen und habe sie auch heute noch nicht vergessen.
Ich denke noch oft an diesen Weihnachtsmorgen und an diese weiche, wollene Mütze mit der bunten Quastl besonders immer dann, wenn ich meinen Teller einmal wieder irgendwo vor die anderen und mitten unter den Schornstein stellen möchte.
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In uns allen findet sich die Quelle höchster Weisheit -
die Quelle der Liebe.
(Thich Nhat Hanh)
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