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Alt 04.10.2010, 10:39
yagosaga yagosaga ist offline
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Standard AW: Kleinzeller mit Fernmetastasen

Hallo zusammen,

in den letzten Tagen habe ich Maxie Wander, "Leben wär' eine prima Alternative", gelesen. Das Werk besteht aus Tagebuchnotizen und Briefen, die die an Krebs erkrankte Schriftstellerin Maxie Wander in den 1970er Jahren geschrieben hat und wurde in den 1980er Jahren zu einem "Kultbuch". Wander wuchs in Wien auf und ging zusammen mit ihrem Mann 1958 in die DDR, lebte in Kleinmachnow und erkrankte 1976 an Brustkrebs. Im November 1977 verstarb sie an den Folgen ihrer Krebskrankheit.

"Leben wär' eine prima Alternative" war damals Ende der 1970er Jahre m.W. das erste Buch, in dem eine Frau bei uns in Deutschland als Betroffene über ihre Krebserkrankung schreibt und löste damals ein lebhaftes Echo aus. Ich weiß, dass manchem Leser bei der Lektüre der Atem stockte.

Nun habe ich das Buch mit zeitlichem Abstand und mit anderen Augen gelesen. Und ich bleibe teils irritiert, teils verwundert zurück. Was mich am meisten verwundert hat, wie lange Wander in Unwissenheit gehalten wurde. Kein Arzt hat anscheinend mit ihr offen gesprochen. Oder verheimlicht sie das vor ihren Freunden und Bekannten, um sie nicht zu erschrecken? (Das glaube ich nicht.) Ihr wird eine Brust abgenommen. Ob damit der Krebs weg ist oder nicht? Die Ärzte erwecken den Eindruck, es wird schon alles wieder.

Andererseits, aus den Andeutungen, die sie macht, - Leber (ich weiß ja, wie sich Lebermetastasen anfühlen und wie sie schmerzen können), Tropf, Schmerzmittel, Schwierigkeiten beim Schreiben / Tippen etc. -, kann ich aus meiner Sicht gut nachvollziehen, wo sie im Krankheitsverlauf gerade steht. Aber bis zuletzt, bis gut eine Woche vor ihrem Tod glaubt sie noch, gesund zu werden und ist sie sich immer noch unsicher, ob sie noch Krebs hat oder nicht. Das erschrickt mich.

Wir dagegen heute, - ich meine jetzt die Menschen, die ich aus der Tagesklinik kenne, die ich treffe und auch mich selbst -, reden viel offener über unseren Krankheitszustand, wir sind viel direkter mit der harten Wirklichkeit konfrontiert, schauen viel direkter dem Tod ins Auge, vertreiben immer wieder die Angstmonster, und das liegt ja auch wieder an den Ärzten, die uns heute unverblümter und direkter aber nicht schonungslos mit der harten Wahrheit konfrontieren. Da hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert.

Freilich müssen wir uns heute auch mit der radikalen Endlichkeit in anderer Schärfe auseinandersetzen als es scheinbar bei Wander der Fall war. Wir können heute die verschiedenen Krankheitsphasen viel bewusster erleben, müssen uns aber auch länger und mit einer anderen Intensität der Gefühle leben.

Etwas fassungslos war ich auch bei den Schilderungen ihrer Tochter Kitty, die durch einen Unfall beim Spielen ums Leben kam. Kitty zieht sich wie ein roter Faden durch die Briefe und Tagebuchnotizen, sie schreibt über ihre eigenen Gefühle aber fast nur in Andeutungen.

Dieses Andeutende, Zurückhaltende bei allem, was Leid und Krankheit betrifft, ist es, was mich irritiert, wo sie sonst mit einer Detailversessenheit kleine Ereignisse, Personen und Empfindungen beschreibt, die im schroffen Gegensatz dazu stehen. Ich denke an die Betrachtungen zu Mann und Frau im Zusammenhang mit dem Organisten auf Rügen, der eine erotische Anziehung auf sie ausübte (... Frauen sind bei ihm gut aufgehoben..) oder an die Versuche, in Kleinmachnow oder Potsdam ein offenes Lokal zu finden, wo man mal essen gehen kann (typisch DDR). Ich vermute, dass dieses Andeutende, Zurückhaltende bei allem, was Leid und Krankheit betrifft, auch den damaligen Zeitgeist der 70er Jahre wiederspiegelte. Über den Tod sprach man nicht, Leiden macht man mit sich selbst ab und die "nackte Wahrheit" wird dem Krebskranken vorenthalten, um ihn nicht noch stärker zu belasten.

Was ist besser, frage ich mich? Mit der Krankheit so verhalten umgehen wie damals zu Maxie Wanders Zeiten? Oder so direkt und offen wie heute? Ich denke an meinen Arzt, wie er uns die endgültige Krebsdiagnose mitteilte, nachdem das Ergebnis zytologisch und pathologisch unabhängig voneinander abgesichert war. Er nahm sich eine Stunde Zeit und sprach die harte Wahrheit, die ja einem Todesurteil gleich kam, so vorsichtig und tastend aus, dass wir dabei nicht in Sprachlosigkeit oder Schock verfielen. Wir gingen anschließend die Optionen durch, die nicht mehr in Frage kamen, Lungenoperation, Lebertransplantation, und er ließ mich die Konsequenzen aussprechen. Und er ließ auch mich den nächsten Schritt entscheiden. Die Mitteilung einer solchen erschreckenden Diagnose ist eine Kunst der höchsten Gesprächsführung!

Durch die gute Palliativmedizin heute erleben wir auch bei unheilbarer Krankheit eine wesentlich längere Phase hoher Lebensqualität, die es bis vor einigen Jahren so noch nicht gab. Das heißt aber auch, die Lebenszeit, in der wir dem drohenden Tod ins Auge sehen mit ungetrübten Bewusstsein und in guter körperlicher Verfassung, ist heute bei Krebs sehr viel länger geworden. Und das stellt heute auch andere Anforderungen an die Krankheitsbewältigung und lässt auch solche Angebote wie psychoonkologische Begleitung notwendiger werden.

Beste Grüße
Ecki