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Alt 27.07.2010, 22:52
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Blume68 Blume68 ist offline
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Standard AW: Leben - nach dem Abschiednehmen?

Liebe Mama,

heute vor zwei Jahren war ich an deinem letzten Abend bei dir. Es ging dir sehr schlecht, aber ich wagte noch nicht, weiter zu denken. Daran zu denken, dass es wirklich der letzte Abend sein würde, an dem ich deine Hände halten konnte. Schon einmal warst du dem "Tod von der Schippe gesprungen", ich wollte nicht noch einmal mit dem Schlimmsten rechnen. Es war eine lange Nacht, schwül-warm, ungläubig-wissend. Ich sehe mich noch durch den kleinen Garten wandern, mit meiner Schwester telefonieren, alle Gedanken gehen mir wieder durch den Kopf. Auch der Pfleger, der soviel Erfahrung hatte, konnte nicht wissen, was der nächste Morgen bringen würde. Würdest du dich doch noch einmal erholen? Er fragte mich, wie ich es einschätzte, und ich hatte kein eindeutiges Gefühl.

So fuhr ich spät nach Mitternacht für ein paar Stunden nach Hause, das Telefon direkt am Bett. Ein paar Stunden Kraft tanken für den nächsten Tag.

Der nächste Tag war der letzte für dich. Ich war sehr früh bei dir, saß an deinem Bett, wechselte die letzten Worte mit dir, die ich gottlob in meinem Tagebuch festgehalten habe. Wie schnell man sonst vergisst... Dein "Ich dich auch!" höre ich immer noch. Ich habe dir vorgelesen, mit zitternder Stimme.
Aus einem kleinen Büchlein. Von Dietrich Bonhoeffer.

"Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiß an jedem neuen Tag."

Die Stelle mit dem "schweren Kelch" habe ich ausgelassen, das ging mir nicht über die Lippen.
Aber den Teil

"Laß warm und still die Kerzen heute flammen,
die Du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht. "

...habe ich später in unsere Karten übernommen.
Es hatte so etwas tröstliches.

Alle, die du liebtest, und die dich liebten, waren bei dir.
Um dich herum. Die Pflegerin sagte, wir könnten noch eine Runde durch den Garten machen, es würde noch viel Kraft brauchen...wir wollten aber nicht weggehen...und als hättest du es gehört, bliebst du nur noch für eine Viertelstunde bei uns. Du bist vergleichsweise friedlich gegangen, dafür bin ich immer noch dankbar...

Morgen werde ich zu deinem Grab gehen, und intensiv an diese letzten Stunden denken, nochmal wie seinerzeit bei dir sein. Eigentlich bin ich immer bei dir, und du bei mir - und du würdest sicher sagen: "Was für ein Unsinn, das an einem Tag festzumachen!"
Aber ich möchte es gern. Meinen Gedanken und Gefühlen Ruhe und Raum geben. Es ist mir wichtig.

Ich wünschte, ich könnte die Zeit noch einmal zurückdrehen, noch einmal deine schönen Hände halten. Allein das Wissen, dass du nicht mehr leiden musst, lässt mich diesen Wunsch als absurd empfinden.

Ich vermisse und liebe dich.

Deine Blume
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In uns allen findet sich die Quelle höchster Weisheit -
die Quelle der Liebe.
(Thich Nhat Hanh)
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