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Alt 15.03.2004, 16:56
Gast
 
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Standard Angst aber auch Hoffnung

Lieber Jens,

ich fühle mich momentan so hilflos. Was kann ich Dir sagen? Nichts. Nichts, was in irgendeiner Form Dir Hilfe oder Trost sein könnte.
Mein Gefühl sagt mir, dass Du Deine Trauer um Deinen Vater vielleicht noch gar nicht beendet hast, und jetzt kommt die nächste Angst dazu. Die Angst, den nächsten lieben Menschen vielleicht zu verlieren.

Aus meiner Sicht haben wir, meine Frau Ulrike und ich, hier in diesem Forum viel Hilfe und Unterstützung gefunden. Es ist aber sicher nicht so, dass hier alle geheilt weiterleben. Es sind leider auch einige Menschen einfach nicht mehr hier.

Im April vor 2 Jahren war ich an einem ähnlichen Punkt wie Ihr heute. Bei mir war es eine Herz-OP (2 Bypässe) "aus heiterem Himmel". Das allein war schon die Katastrophe. Für mich. Und dann findet eine junge Assistenzärztin bei der Routine-Untersuchung vor der Herz-OP in jeder Niere einen Tumor.
Für mich das Todesurteil. Weil man hat ja so seine Erfahrungen mit Krebs in der Familie. Mutter, Vater, Oma, Großtante etc. etc.

1998 hatte ich meine jetzige Frau kennengelernt. 1999 haben wir geheiratet - und 2002 sollte das alles vorbei sein? Ich habe fast ein halbes Jahr nur geheult. Bei jeder Gelegenheit. Für mich war erstmal einfach alles vorbei. Ich weiss nicht, ob das möglich ist, aber ich glaube heute, ich habe viel "um mich" getrauert. Was wollte ich noch alles tun ?! Und auf einmal "Nichts geht mehr"? Und wir waren doch gerade erst 2 1/2 Jahre verheiratet. Da konnte doch nicht alles vorbei sein?

Du schreibst "Du suchst "gierig" im KK nach dem Begriff "Tod"?
Weisst Du, kannst Du sagen, warum?

Kann es sein, dass Du danach die "Chancen" Deiner Mutter herausfinden willst? Ich weiss und ich verstehe, dass man sich an jeden Strohhalm klammert, um das Unfassbare irgendwie "greifbar" zu machen.

Ich hoffe und ich wünsche, Du kannst mit Deiner Mutter reden. Nicht nur "sprechen", sondern über alles reden. Vielleicht könnt Ihr auch zusammen weinen. Für mich gehörte das einfach auch dazu.

Ich habe keine Ahnung, wie die Aussagen der Ärzte zu bewerten sind. Dazu bin ich zuviel Laie. Aber aus meinen "Erfahrungen" der letzten 2 Jahre, nicht zuletzt hier im KK gehe ich davon aus, dass ein Tumor in der Niere sehr wohl ein Nierenkarzinom sein kann. Und auch Blut im Urin kann darauf hindeuten. Sicherlich ist es leider so, dass ein Tumor in der Niere nahezu immer "bösartig" ist. (Nur in seltenen Fällen gibt es gutartige Tumore, hat man mir gesagt.) Dafür ist "mein" Nierenzellkarzinom, bösartig und heimtückisch wie er auch ist, "langsamwachsend", wie die meisten bösartigen Nierentumore. Meistens besteht also hinsichtlich OP und anschließender Therapie kein Grund, in zeitliche Hektik zu verfallen. Und wenn eine Niere rauskommt, ist das normalerweise kein Problem, wenn die andere Niere in Ordnung ist und arbeitet. Bei mir waren beide Nieren befallen, und ich habe jetzt noch eine "Restniere", die (Gott sei Dank) "fast" die Arbeit von zwei Nieren macht, also "ausreichend", um nicht an die Dialyse zu müssen.

Was wahrscheinlich nicht so gut ist, ist zuwenig Essen und Trinken. Zwei bis drei Liter am Tag sind einfach ein MUSS - egal wie. Das muss rein. Und erst recht, wenn Blut im Urin ist. Denn dann muss die Niere "gespült" werden. Ich weiss selbst, wie schwer das manchmal ist, diese Mengen zu trinken. Ich war nicht immer ein einsichtiger Patient. Irgendwann musste Ulrike rabiat werden, bis ich es begriffen habe bzw. ihren Anweisungen zufolge getrunken habe. Ich denke, Du kannst (entgegen Deiner Meinung) Deiner Mutter doch eine grosse Hilfe sein. Vielleicht gelingt es Dir, sie zum Essen und Trinken zu bringen.

Sie wird noch Kraft benötigen für die OP und auch für evtl. nachfolgende Therapie. Ich glaube, dass nur Du ihr helfen kannst, aus dem "es hat doch alles keinen Zweck" wieder herauszukommen. Sie hat Dich. Vielleicht hat sie noch jemanden, oder etwas, für den/das es lohnt, weiterleben zu WOLLEN. Ein kleines Ziel hilft manchmal sehr, sehr viel. Ich habe anfangs nie begriffen, wie ich "kämpfen" sollte. Und warum. "... es hat doch alles sowieso keinen Zweck"....., das war lange meine Einstellung.

Ich kann Dir leider nicht sagen, wie man da raus kommt. Es gibt sicherlich kein Patentrezept. Als ich "erstaunlicherweise" für mich nach 1/2 Jahr immer noch lebte, obwohl "man" in meiner Familie bei Krebs doch erfahrungsgemäß schon nach drei Monaten tot war, muss irgendwie der Wandel gekommen sein. Dann habe ich mir irgendwann ein "großes" Ziel vorgenommen und Ulrike und ich haben ein dreiviertel Jahr nach Diagnosestellung eine große Reise gemacht. Herz-OP im April, Nierenentfernung links im Mai, im Oktober Tumorentfernunung Niere rechts, Immun-Chemo-Therapie zum Jahresende und im Februar Reise nach Australien.

Ich habe mich in den zwei Jahren naturgemäß viel mit dem Thema "Sterben" befasst. Egal, ob und wie jemand religiös dazu steht, fest steht doch mit der Geburt auch das Thema Tod. Auch wenn wir Weltmeister im Verdrängen sind. "Wovor haben Sie Angst" war die Frage meiner Therapeutin. Ihre "Hausaufgabe" an mich und Ulrike war :"sagen Sie sich gegenseitig 5 Minuten lang im Wechsel jeder dem Anderen, wovor er Angst hat. Und wenn Ihnen nichts mehr einfällt, wiederholen Sie einfach die Ängste, die am Grössten sind". Haben wir gemacht. Ohne irgendeine Wiederholung. Weil jeder soviel Ängste hatte, die einfach mal ausgesprochen werden MUSSTEN. Die waren nicht weg. Aber wir haben anschliessend über soviel reden können. Was ungemein geholfen hat.

Ich wünsche Dir die Kraft, sehr, sehr viel mit Deiner Mutter reden zu können. Vielleicht ist mein Beitrag nach aussen hin nicht so optimistisch, wie Du es erwartet hast. Ich glaube aber, es besteht schon Anlass zum Optimismus, wenn man Realitäten nicht einfach übersehen will.

Die Medizin ist heute viel, viel weiter als vor 20 oder 30 Jahren. Für mich war ich 2002 "so gut wie tot". So war meine "Familienerfahrung".

Jetzt weiss ich, dass es viele Möglichkeiten gibt, von denen ich damals noch nie gehört hatte. Und das es viele Menschen gibt, die eine lange Zeit MIT ihrer Krankheit leben.

Das wünsche ich Deiner Mutter so sehr. Und für Dich hoffe ich, dass Du die Kraft hast, Deine Mutter auf diesem Weg lange, lange zu begleiten.

Aus der Sicht des "Selbst-Betroffenen" kann ich Dir sicherlich auch zukünftig aus und von meinen Erfahrungen berichten.

Liebe Grüße
Jürgen
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