Einzelnen Beitrag anzeigen
  #102  
Alt 17.01.2009, 17:39
Stefans Stefans ist offline
Gesperrt
 
Registriert seit: 27.01.2007
Beiträge: 425
Standard AW: An alle Hinterbliebene...

Man stirbt wie man lebt.
Das Sterben gehört zum Leben,
nicht zum Tod.

Lautet das Motto auf der Website des ambulanten Hospizdienstes hier in der Nähe. Das gefällt mir. So, wie meine Frau und ich über 20 Jahre lang zusammen gelebt (oder es zumindest versucht) haben, bemühe ich mich auch, darüber zu sprechen. Offen, tabulos, möglichst wenig geprägt von Konventionen, streitlustig, und mit einer absoluten Allergie gegen Denk- und Redeverbote und moralisch erhobene Zeigefinger. Ich weiss, dass meine Frau das genauso sieht. Nichts verschweigen, nichts rauszögern, dem man sich stellen kann, und immer "Butter bei die Fische". Also Klartext, auch wenn es mitunter weh tut, und den Finger auf Wunden legen, die so groß sind, dass sie nun wirklich niemand übersehen kann.

Deshalb finde ich die Entwicklung dieses threads auch nicht schlimm. Für mich gibt es wenige "sensible" Themen. Eher Menschen, die Sensibilität mit dem Tragen von Scheuklappen verwechseln. Die Emotionen dürfen meinetwegen gerne mal hochkochen. Mein Motto: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Der so oft geäußerte Wunsch nach Ruhe, Frieden und Beilegen von Streit verursacht mir Magengrimmen. Weil diese Ruhe IMHO meist nur die vor dem nächsten Sturm ist. Der auf jeden Fall kommen wird; wenn nicht in diesem thread, dann in einem späteren. Und dieses "Gehacke" finde ich nicht immer schön, aber trotzdem notwendig. Damit nicht passiert, was ein guter Lehrer von mir schon vor Urzeiten postulierte: Wo der Klügere nachgibt, regiert die Dummheit

Die Ausgangsfrage dieses threads war: "Möchten wir darüber öffentlich lesen". Lesen = es wissen. In diesem Fall die rein physisch unangenehmen Details des Sterbens. Ich glaube immer noch, dass es gar nicht um diese Details geht - wenn es nur um Gerüche und Körperflüssigkeiten ginge, könnten wir das Thema abhaken mit einem lockeren "wo ist das Problem? Kinder kotzen auch und machen sich stinkend die Windeln voll; wen sollte es stören, darüber zu sprechen; weiss doch eh jeder".

Nein, es geht, umfassender, um das was "wir" vom Tod / Sterben wissen wollen oder lieber nicht. Wissen im Sinne von be-greifen, aushalten, im Herzen ankommen lassen. Nicht das Vernunftwissen. Da sind wir alle schrecklich klug, keine Frage. Jedenfalls, mir ist in letzter Zeit einiges dazu durch den Kopf gegangen. Im folgenden bruchstückhaft und unzusammenhängend...

Wenn ich einen Eindruck davon bekommen möchte, was "wir" wissen wollen, dann schaue ich Fernsehen; bevorzugt Nachrichten. Sehr merkwürdig, die Nachrichten. Offenbar wollen wir sehr wohl etwas über das Sterben wissen. Wir wollen auch Elend, Schmerz, Blut und Leichenteile sehen, an denen sich die Fliegen gütlich tun. Aber nur, wenn sie weit weg sind. Ob Kriegsopfer, Hungersnöte, Tsunami-Wasserleichen - keine Bilder und Schilderungen können grausam und brutal genug sein... solange sie nur so weit weg sind, dass wir sicher sein können, dass sie uns in D nicht betreffen. Ach, wie gruselt's da angenehm; fast wie bei Aktenzeichen xy. Schön zu wissen, dass mir das nicht passieren kann.

Sterben hierzulande ist auch Willkommen. Bei Verkehrsunfällen, Bränden, Zugunglücken usw. Aber, wenn schon hier in D: dann niemals Sterbende, Tote oder gar Leichenteile zeigen. Ein Gebot der "political correctness", das alle Medien befolgen. Bilder von Unfallstellen zeigen maximal eine kleine Blutlache oder ein Relikt (Teddybär, Handtasche...) - aber niemals einen Toten. Und es darf heute auch niemals der Hinweis fehlen, dass die Überlebenden, Angehörigen und Helfer, die das erleben müssen, umgehend "psychologisch betreut" werden. Sehr beruhigend, die Sicherheit, dass sich im Notfall - wenn das Weggucken nun wirklich nicht mehr geht - "Experten" um alles kümmern.

Anderes Sterben wollen wir dagegen gar nicht sehen. In D begehen 10.000 Menschen jährlich Suizid. Jede Stunde einer. Darüber besteht medienübergreifend ein "Schweigegelübde", schon seit langem. Es sei denn, einer ist wirklich promiment, dann dürfen wir den Kokodilstränen freien Lauf lassen. Aber den armen Wicht, der sich mit E 605 zu vergiften versucht hat und der blau kotzt, oder den, der es mit Abflussreiniger versucht hat. Den wollen wir ebenso wenig sehen sie die blaue Zunge des Erhängten und die Schweinerei, die ein mit der Schrotflinte weggeschossner Kopf verursacht. Und schon gar nicht die Leute, die damit zu tun haben. OK, die werden ja alle "psychologisch betreut". Erst recht nicht wollen wir wissen, dass so ein Ende uns allen drohen kann. Mitten in D, jeden Tag. Vom Arbeitsplatzverlust bis zum letzten Flug aus dem 10. Stock ist es mitunter ein kurzer Weg. Lieber nicht dran denken. Da sind wir ganz Kind: ich mach' die Augen zu, dann sieht mich keiner.

Das Sterben, das uns alle betrifft, und das wir beim besten Willen nicht verdrängen können, ohne uns völlig lächerlich zu machen (und uns als Menschen eine emotionale Bankrotterklärung ausstellen zu müssen) - das Sterben an Krankheit oder Alter - das ertragen wir offenbar nur in kleinen Dosierungen, gut verpackt. Im Fernsehen am besten nach 23 Uhr - oder bei Arte, 3Sat usw., wo eh' keiner hinguckt. Und dann am liebsten noch mit dem diese-Sendung-ist-für-Jugendliche-unter-...-nicht-geeignet Hinweis.

Dieses Sterben hierzulande ist schon schwer genug zu ertragen. Erst recht nicht wollen wir "unschöne" Details hören. Nicht, wie Angehörige an Pflege und Sterbebegleitung zerbrechen. Und schon gar nicht, wie in D Menschen sterben müssen, die kein Geld haben, um sich ihren Rest an Menschenwürde kaufen zu können. Im Sozialamts-finanzierten Pflegeheim als Sterbender nachts 12 Stunden in der eigenen Scheisse und dem eigenen Gestank liegen, um mit Tavor oder Haldol kaltgestellt zu werden, wenn man sich darüber beschwert. Oder auf den Flur geschoben zu werden, wenn das Ende nahe ist, damit das Zimmer für den Nächsten frei wird und vorher noch geputzt werden kann? Neinneinnein, das haben wir ja noch nie erlebt oder ganz anders gehört. Und wir wollen das bitteschön auch nicht hören, schon gar nicht miterleben müssen.

Was wir dagegen gerne tun: uns beim Blick über den Tellerrand ereifern. Da gibt es doch Kulturen auf der Welt, wo Sterbende kurz vor ihrem Tod allein in die Steppe gehen, einsam sterben und posthum von Wölfen gefressen werden. Abscheulich, grausam, unmenschlich, inhuman, unzivilisiert. Schön, dass wir so menschlich sind. Wir haben für alles bezahlt. Vor allem dafür, dass wir Sterben und Tod an Fachleute delegieren, um damit bloss nicht behelligt zu werden. Sterbebegleitung, Tod, Leiche waschen, einkleiden... wird alles delegiert. OK, einen letzten Blick auf den geschminkten Toten muten wir uns zu. Das gehört sich schließlich so. Aber die Fäkalien, die posthum ausgeschieden werden, soll doch bitte jemand anders beseitigen, bevor wir dann trauernd an den Sarg treten. Schließlich wollen wir den teuren Verblichenen so in Erinnerung behalten, "wie er war". Und er war natürlich nie hilflos, stinkend und leidend, sondern immer schön und gerade frisch geduscht. Machen wir uns zumindest gerne vor.

Wenn wir uns schon mit dem Tod näher beschäftigen, dann auch Art alter deutscher Tradition. Rational, umgeben von Formularen, Ratgebern und Preisvergleichen. Die Beschäftigung mit Erbrecht, Testament, Vorsorgevollmacht, Erbschein, die Auswahl des "besten" Bestatters und Friedhofs... kein Problem, das sehen wir bei PlusMinus und WiSo oder lesen dazu FinanzTest. Und wenn es Streit gibt, sind wir ja prozesskostenversichert. "Vernünftig" und "normal" finden wir auch, uns schon am Sterbebett über den Nachlass die Köpfe einzuschlagen und das Pflegepersonal in der Klinik des Diebstahls zu bezichtigen. Mutter hatte aber noch eine goldene Kette, die müssen wohl die Schwestern geklaut haben...

Im Abschieben (der Sterben und unserer Verantwortung für sie) und Schuld zuweisen sind wir Weltspitze. Diejenigen, die die Wahrheit tagtäglich erleben, weil sie beruflich damit umgehen müssen (Ärzte, Schwestern, Altenpfleger, Polizisten usw.), die mögen sich ihr Leid professionell wegtherapieren lassen, indem sie wegen ihrer "posttraumatischen Belastungsstörung" zum Psychologen gehen. Hauptsache, wir bleiben von solchen Traumata verschont. Wobei, manchmal ist die Leidenserfahrung anderer auch ganz nützlich. Glücklich, wer eine Krankenschwester in der Verwandschaft hat, die einem sagen kann, dass die Schnappatung kurz vorm Exitus normal und kein Grund ist, doch noch den Notarzt zu rufen.

Man stirbt wie man lebt.
Das Sterben gehört zum Leben,
nicht zum Tod.

Wie meine Frau sterben und ich sie dabei begleiten durfte... das war so, wie wir uns bemüht haben, miteinander zu leben. Nicht ästhetisch, friedlich, schön und harmonisch. Aber aufrichtig, authentisch, mit höchstem Respekt vor dem anderen und dessen Willen und der absoluten Sicherheit, dass wir uns im Notfall jederzeit 100%ig auf den anderen verlassen können. Wir konnten das (wenn auch erst nach über 10 Jahren Partnerschaft, vielen Krisen und harter Arbeit), was eigentlich selbstverständlich bei Menschen sein sollte, die sich das Ja-Wort gegeben haben: unser Leben ohne jeden Zweifel in die Hände des anderen legen. In der Gewissheit, nicht kurz vor Schluss die längst überkommenen Lebenslügen durch Sterbenslügen ersetzen zu müssen, um es irgendwie auszuhalten.

Und so haben meine Schwägerin und ich uns nach Pflege, Sterben, Leichenwäsche, Aufbahrung Zuhause und der letzten harten Übung, beim Einkleiden meiner Frau den Leichengeruch zu ertragen, abschließend entspannt einen auf die Lampe gegossen, dem Foto meiner Frau zugeprostet und sie gefragt: "Na, wie haben wir das gemacht?" Und sie hat geantwortet: "Das habt ihr super gemacht. So, wie ich es wollte. Ein dickes Sonderlob für euch!"

Und in diesem Lob sonnen wir uns zurecht - und können abends ruhig mit der Gewissheit schlafen gehen, es meiner Frau recht gemacht zu haben. Und uns morgens mit dieser Gewissheit im Spiegel anschauen, ohne den Blick abwenden zu müssen. Doch, das haben wir gut gemacht, und damit können wir ohne Reue weiterleben. Den Menschen, die sich angesichts dieses Themas über Respekt, Würde, Sensibilität usw. bei gleichzeitigem aber-darüber-spricht-man-doch-nicht Gehabe erfeifern, kann ich nur wünschen, dass sie ebenso mit sich im reinen sind. IMHO das Wichtigste für die, die weiterleben müssen.

Mir gibt es große Hoffnung, dass bei allem Verleugnen und Nicht-wissen-wollen in unserer Gesellschaft hier so viele Menschen sind, die auch in Krisenzeiten in der Lage sind, dem Leben die Stirn zu bieten. Und darüber zu sprechen. Und meine Frau, wo immer sie auch gerade ist, freut sich darüber genau so wie ich. Das weiss ich genau. Und ich freue mich, dass ich solche Leute nicht nur virtuell kenne, sondern auch im wahren Leben. Z.B. die beste Psychotherapeutin der Welt, mit der ich gestern gesprochen habe, auch über die unangenehmen Details des Sterbens meiner Frau. Die überlegte kurz und sagte dann:

"Ja, aber das gehört zum Leben, oder?"

Viele Grüße,
Stefan

PS: das "wir" in diesem posting ist natürlich absichtlich pauschal verwendet und z.T. böse überzeichnet. Wem's nicht gefällt, der mag das gerne durch ein "ich-bin-das-nicht-und-würde-das-ganz-anders-... ersetzen
Mit Zitat antworten