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Alt 28.07.2003, 13:56
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Standard junge Frauen und der Tod der Mutter

Liebe Alessa,

ich glaube, es dauert sehr lange, bis die schönen Erinnerungen wieder hervorkommen und die schlimmen Bilder allmählich verblassen. Beim einen geht das schneller, beim anderen dauert es eben länger. Vielleicht liegt es auch daran, dass Du miterlebt hast, wie schwer Deine Mutter es in den letzten Tagen und Stunden hatte. Du warst abwechselnd mit Deiner Schwester rund um die Uhr bei ihr - das war bei uns nicht der Fall. Sie war im Krankenhaus und ich habe mich so gut es ging, mit meinem Vater und anderen Verwandten abgewechselt, aber ich hatte nunmal noch das Baby zuhause, sodass ich nicht so oft und so lange bleiben konnte, wie ich wollte. Ich habe sie das letzte Mal zwei Tage vor ihrem Tod gesehen. Und da war sie so glücklich. Sie durfte seit langem das erste Mal wieder feste Nahrung zu sich nehmen, ich habe ihr Gesicht gesehen, als der Pfleger das Essen mit dem trockenen Brot hereinbrachte und sie nicht begreifen konnte, dass er sich nicht im Plan geirrt hatte und das Essen tatsächlich für sie war. Die neue Chemo, vor der sie solche Angst hatte, die am vorhergehenden Tag begonnen wurde, hat sie gut vertragen und die Ärzte sagten ihr, dass sie Weihnachten nach Hause dürfte. All das hat sie so glücklich gemacht und so habe ich sie in Erinnerung; ich bin aus dem Krankenhaus gegangen mit einem guten Gefühl - die darauffolgende Woche sollte sie nach Hause kommen. Am nächsten Tag hatten wir ja nur telefoniert und nachts ist sie dann gestorben. Ich habe sie also nicht mehr lebend gesehen. Vielleicht fällt es mir deshalb leichter, jetzt schon die Bilder ihrer schlimmen Leidenszeit zu vergessen. Auch wenn ich von ihr träume, ist sie gesund und schön. Das macht es natürlich für mich leichter, obwohl der Schmerz unendlich groß ist. Wahrscheinlich brauchst Du einfach noch viel viel mehr Zeit, aber ich bin mir sicher, auch bei Dir werden die Erinnerungen an Eure schöne gemeinsame Zeit stärker werden. Eine Freundin legte mir folgendes Gedicht in ihre Trauerkarte, es hat mir sehr geholfen, mich an die Zeit vor Mamas schwerer Krankheit zu erinnern und mich getröstet, dass Mama doch irgendwo weiterlebt:

Verwelkte Blätter
verschwinden ganz
allmählich,
sie werden immer durchsichtiger,
sind nur noch ein Filigrannetz
und zuletzt hören sie
einfach auf zu sein.
Braun mit rötlichem Schimmer
liegen sie auf dem Boden
und mir wird bewusst, dass sie
neue Verbindungen eingehen.
Als ob sie schon vorher
ehe sie verwelken
mehr und mehr
zu etwas anderem werden.

- Ingrid Springorum -


Ich umarme Dich.
Deine
Kiki
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