Thema: Engel
Einzelnen Beitrag anzeigen
  #98  
Alt 08.05.2003, 22:16
Gast
 
Beiträge: n/a
Standard Engel

Hallo,

also, mein schlechtes Gewissen werde ich mal versuchen, abzulegen :-)

Als ich Eure letzten Beiträge las, fiel mir auf, daß ich bei jedem von Euch erst mal schlucken musste. Mit zwei kleinen Kinder allein dazustehen, oder die 29 Jahre alte Partnerin zu verlieren erzeugt bei mir schon ein Gefühl von Hilflosigkeit, wie fühlt man sich da erst, wenn bei einem selbst sonst "alles in Ordnung" ist?
Damit will ich sagen, daß ein Aussenstehender wahrscheinlich total überfordert ist, wenn er, ohne so einen Verlust durchgemacht zu haben, mit unseren Schicksalen konfrontiert wird. Was Du gesagt hast, Jörg, sehe ich genauso, und ich hätte mir damals auch nie vorstellen können, irgendwann "Vollwaise" zu sein. Genauso wenig hätte ich gewusst, was ich jemandem hätte sagen sollen, der keine Eltern mehr hat.

Das Komische ist, daß ich auf der einen Seite Leuten begegne, die von mir verlangen, alles positiv zu sehen, nur zu lachen und mich "bloss nicht hängen" zu lassen. Und auf der anderen Seite gibt es welche, die mich schräg angucken, weil es mir anscheinend noch zu gut geht. Eine gute Freundin meiner Mutter meinte letztens zu mir, daß sie auf der Beerdigung das Gefühl hatte, ich wäre froh, daß Mama tot wäre. Sie verstehe nicht, daß ich mit allem so gut klar käme, sie wäre den ganzen Tag total fertig. Ich glaube, so jemanden, der einem die schlechten Gefühle aufdrängen will, braucht wohl keiner von uns, oder?

Im letzten Sommer hat sich zwischen meiner Mutter und mir einiges verändert. Vor ihrer Krankheit verband uns zwar schon die Tatsache, daß wir gemeinsam gegen meinen alkoholkranken Vater "ankämpften" und nach seinem Tod mit 37 dann noch enger zusammenrückten, aber seit der Diagnose im April letzten Jahres gab es eigentlich nur noch meine Mutter und mich. Wir haben versucht, ihr die Chemo so angenehm wie möglich zu machen und so gut es eben ging, nicht an die Krankheit zu denken. Der Erfahrungsbericht "Diagnose CUP-Syndrom" ist übrigens von mir, und beim Schreiben des Berichtes hatte ich zum ersten Mal gemerkt, wie gut es ist, wenn man sich etwas "von der Seele" schreibt.

Am Sonntag ist Muttertag, und als ich gestern mit einer guten Freundin in der Stadt war, war sie plötzlich ziemlich verlegen, weil sie, ohne sich vorher Gedanken zu machen, meinte, daß sie noch etwas für ihre Mutter suchte. Dann kam der Schreckmoment und sie entschuldigte sich. Ich sagte ihr, daß sie sich nicht für so etwas entschuldigen muss, weil ich damit kein Problem habe. Ganz im Gegenteil, ich bin froh, daß das Leben irgendwie in normalen Bahnen weiterläuft und es wird nicht der letzte Muttertag sein, an dem ich sie so sehr vermisse...

Das Lieblingslied meiner Mutter im letzten Sommer war Mensch von H. Grönemeyer und wir haben es manchmal beide laut mitgesungen (und wenn es ihr gut ging, sind wir dazu durch die ganze Wohnung getanzt...;-)). Ihr könnt Euch wahrscheinlich vorstellen, wie ich mich fühle, wenn der Song im Radio läuft und es gibt solche Momente mit Sicherheit auch bei Euch. Vielleicht tun sie irgendwann auch nicht mehr so weh, aber sie gehören zu unserem Leben dazu und keiner kann sie uns nehmen...

Ich wünsche Euch allen viel Kraft und Mut,
liebe Gruesse
Sandra
Mit Zitat antworten