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Alt 13.04.2007, 18:39
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rezzan rezzan ist offline
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Standard AW: Bin ich ein schlechter Mensch weil....

Liebe Carina,
ich bin so froh, dass du mal darüber geschrieben hast. Genauso geht es mir nämlich auch. Meine Mutter ist vor 5 Jahren gestorben (sie war erst 54) und mit ihr meine ganze Welt. Ich war 2 Jahre lang jeden Tag bei ihrem Grab. Manchmal sogar zweimal, vor und nach der Arbeit. Im Winter war es immer ganz schlimm, weil es morgens noch so dunkel war. Aber ich hatte ein so dringendes Verlangen, weil ich wusste sie liegt da ganz alleine und dachte sie wartet auf mich und freut sich über meinen Besuch. Ich heule jetzt noch Rotz und Wasser wenn ich das hier schreibe. Es ist echt unglaublich - die Zeit heilt gar nix.

Dann nach zwei Jahren war es schlagartig anders. Ich konnte und wollte einfach nicht mehr hin. Auch ich kann gar nicht sagen warum. Ich stand irgendwie wieder einmal an ihrem Grab und dachte immer nur "es tut mir leid, es tut mir so leid, so leid dass ich ihr nicht helfen konnte, so schrecklich leid, dass sie so leiden musste, so leid dass ich ihr das nicht abnehmen konnte. Und immer wieder gingen mir die Bilder ihres Leidens durch den Kopf, wie sie litt, wie sie da lag, die schrecklichen Krankenhausaufenthalte, die sinnlosen OPs, der jahrelange Alptraum, ihre Angst und wie viel sie sicher aus Rücksicht auf uns nicht gesagt hat, ihre Schmerzen und ich konnte ihr nicht helfen. Sie war so ein guter Mensch, das hat sie nicht verdient, dass hätte ihr nicht passieren sollen. Alles was ich fühle ist immer nur, dass es mir so leid tut für sie, dass es mir heute noch den Atem raubt, wenn ich daran denke.

Und am nächsten Tag bin ich einfach nicht hingegangen und die darauffolgenden Tage auch nicht. Ich weiß nicht warum, ich fühle mich schrecklich dabei, aber ich kann nicht. Ich fahre mittlerweile sogar extra einen kleinen Umweg um nicht am Friedhof vorbeizufahren. Jetzt ist vor kurzem mein Vater gestorben und liegt neben ihr. Seit seiner Beerdigung vor sechs Monaten war ich kein einziges Mal mehr dort. Ich fühle mich so elend deswegen und weiß nicht warum ich es nicht schaffe, wenigstens mal an wichtigen Tagen wie Geburtstag, Muttertag o. ä. hinzugehen. Das macht mich wirklich zusätzlich noch fertig. Ich sage mir jedes Wochenende, dieses Mal gehst du hin, jetzt mach schon. Aber es geht einfach nicht.

Versteh mich bitte nicht falsch, an meinen Gefühlen hat sich gar nichts geändert, es zerreisst mich immer noch, dass sie und nun auch noch mein Vater so sehr leiden mussten und ich glaube auch, dass sie sich "freuen" würden, wenn ich sie besuche. Aber ich kann einfach nicht.

Wahrscheinlich ist es eine Schutzreaktion. Meine Schwester meinte (der es genauso geht, aber sie kann sich noch hin und wieder dazu bewegen hinzugehen), dass wir wahrscheinlich einfach nicht mehr unglücklich sein wollen. Es einfach nicht mehr wahrhaben wollen. Und wenn man dort hingeht ist es einfach zu deutlich.

Aber irgendwie weiß ich auch nicht. Ich fühle mich einfach nur wie ein Alien und würde so gerne einen "normalen" Weg finden. So wie andere auch, hin und wieder mal auf den Friedhof gehen können. Sich endlich nicht mehr so schlecht fühlen. Aber wenn ich hier lese, merke ich, dass auch andere scheinbar ähnliche Probleme haben und das tröstet mich doch etwas.

Sorry, dass es so lang geworden ist, aber es hat wirklich eine Ader getroffen.

Ich wünsche allen hier alles Liebe,
Rezzan
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