Thema: Stammtisch
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Alt 15.10.2006, 07:50
Blue Blue ist offline
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Standard AW: Stammtisch

Meine Schwägerin wird am Montag 50 Jahre alt. Keine Ahnung welches Teufelchen in mir war, um das zu machen.

Ich hab eine CD zusammengestellt. Eigentlich jedes Lied eine einzigartige Liebeserklärung. Nein, ich werde sie ihr nicht schenken, ich hab es für ihren Mann gemacht. Jetzt sitze ich da, hör mir die Lieder an. 50? Was jetzt schon? – What a lucky man you are – Sommermorgen – Herbstgewitter – ich liebe Dich. Reinhard Mey. Ist für mich traurig schön geworden. Irgendwie würde ich wohl so eine CD an meinem 50 Geburtstag bekommen wollen. Nur eben mit Lieder die für mich etwas Besonderes sind, unsere Lieder, aber Lucky man wäre dabei. Na gut, ist ja noch ein bißchen hin.

So sitze ich da, wie oft habe ich das Ding jetzt gehört? Sehr oft, zu oft. Jetzt lieber Rosenstolz?

Meine Schwägerin. Wie ist sie so? Ich kannte sie nicht, muß ich wirklich gestehen, kannte sie sehr lange nicht. Ich denke sie wirkt auf andere reserviert, doch, ich denke das ist das richtige Wort. Ihre Augen sind den Augen von Jürgen sehr, sehr ähnlich. Ich hab lange keinen Draht zu ihr gefunden, sehr lange nicht. Wann fing es an besser zu werden? Ja, als meine Schwiegermutter starb, so überraschend, 30.12.2002. Auf einmal gab es Dinge zu besprechen, auf einmal kam die Seele mit. Auf einmal waren Gefühle da. Wir haben geweint, wir haben gelacht, wir haben geschumpfen.

Dann Mai 2004. Fortschreiten der Krankheit bei Jürgen. Bestrahlung? Was? Wie kann das sein? Ab diesem Zeitpunkt war sie jede Woche da. Obwohl ich Jürgen immer fahren wollte - wohin auch immer – fuhr ich ihn das letzte Mal nicht in die Biomed. Nein, Angelika machte das. Und sie brachte ihn mir auch wieder zurück.

2003/2004 war sehr schwer auszuhalten. So viel Hoffnung, soviel versucht – nichts hat geholfen. Der Herbst in seinem Leben und wir wussten es nicht. Der letzte Herbst? Gefüllt mit Hektik, viele Enttäuschungen, daß so gar nichts greifen wollte. Und doch, immer wieder Hoffnung, weiter machen, immer weiter. Selbstbetrug?

Der große Anfall am 01.01.2005 und mein dumpfes Gefühl im Bauch. Ich rannte damals wirklich im Viereck. Verdammt nochmal es kann nicht sein!

März 2005 die Erkenntnis, ja, es ist unser letzter Weg und Angelika war fest an meiner Seite, wie auch meine Süße, ja, ich hab die Hand gespürt, jeden Tag aufs Neue. Angelika hat mich bestärkt, hat Zweifel genommen. Vielleicht doch die Chemo, obwohl ein Anschlagen der Therapie doch nur unter 20 % lagen? Patentenverfügung –ein sehr ehrlicher Arzt. Ich habe anders entschieden und war lange am Hadern damit. Und doch, es war richtig so. Keine Therapie wenn keine Aussicht auf Besserung besteht. Ich hab mich dran gehalten, Angelika hat es unzählige Mal mit mir auseinander genommen.

Klar wir bekamen uns mal in die Wolle – wie sollte es auch anders sein mit mir. Sie wollte von mir hören, daß sie ruhig in den Urlaub fahren kann – ich konnte es ihr nicht sagen. Sie fuhr nicht in den Urlaub, zum Glück, denn die erste Nachtwache wäre in den Zeitraum gefallen. Sie war jede 2. Nacht hier und wir haben uns die Nacht aufgeteilt.

Nie habe ich erlebt, daß ihr Mann, Jörg, einfach mal so vorbei gekommen ist. Er kam, nahm mich in die Arme, so wie er es heute noch macht. Heute quietsche ich manchmal, damals habe ich nur ganz still gehalten. Jetzt lauert er mir manchmal nach der Arbeit auf. Lacht mich an und streckt seine Arme aus. Ich stell meine Tasche hin, renn los, laß mich auffangen.

Angelika rückte immer mit dem Einkaufskorb an, sonst wäre ich vielleicht tatsächlich verhungert. Und wau, ich hab abenteuerliche Zusammenstellungen gegessen und immer war Schokolade dabei. In der Zeit hörte ich nie, daß ich viel zu viel rauche. Es war Vertrauen pur!

Beide waren dabei als Jürgen mich alleine ließ. Beide haben auf mich gewirkt wie eine Festung die nicht einzureißen war. Sie schauten mich an, als ich wollte, daß sie rausgehen, solange Jürgen gewaschen wird – so wie immer eben. Ich war verzweifelt, weil ich Jürgen nicht mehr knuddeln konnte, wie ich es sonst immer machte. Jörg sagt, das macht doch nix.

Eine Frage von Jörg: Was denkst du? Meine Antwort: Und jetzt? Später sagte er zu mir, was gibt es Schöneres als in den Armen seiner Frau zu sterben. Doch Jörg, es gibt Schöneres, aber das war leider nicht möglich.

Dann lernte ich wieder laufen, mit Angelika, wie sonst? Ich fuhr mit ihr zu meiner Freundin nach Dresden. Da hatte sie dann ein bißchen Schwierigkeiten mit meinem ganz und gar für meine Süße. An schlechten Tagen bekomm ich vorgerechnet, wie oft ich bei ihr bin. Dann stelle ich die Gegenrechnung auf, wie oft ich mich jetzt bei ihr rumtreibe.

Von ihr bekam ich die Massage an Jürgens Geburtstag im letzten Jahr. Es war ihr Sohn der im Frühjahr heiratete – ja, die verrückten Schuhe.

Und ja, manchmal geht ihr der Hut hoch, aber auch sie darf das. Es muß wohl im letzten Sommer gewesen sein, da machte sich ihre Schwiegermutter ein bißchen lustig über das Temperament von ihr. Ich nahm sie in den Arm, drückte sie und sagte zu ihr: ja, es geht dir der Hut hoch. Aber wenn es darauf ankommen, wenn es wirklich darauf ankommt bist du da – alles andere ist egal.

Ja, Angelika kann viel anstellen, ich vergess es nicht wie sehr sie mir geholfen hat. Ohne sie hätte ich die Pflegezeit nicht auf meine Art und Weise geschafft. Hab Dank dafür. Und auch Danke Jörg, nein, blöd bin ich nicht. Ich mach das, weil ich weiß, auch wenn ich am Nordpol sitze und um Hilfe brülle dann kommst du angerannt, ich weiß, du kommst. Das ist es Wert, ich weiß.

Die CD ist wunderschön geworden, nur fürchte ich, es wird ihr nicht besser ergehen wie mir, sie wird weinen. Soll ich sie weitergeben oder soll ich es lassen? Ich drück sie ganz einfach Jörg in die Hand, mit seiner Rede. Vielleicht doch ein bißchen blöd?

Ja, Shalom, ich werde weiter lesen. Vielleicht werde ich mal losbrüllen. Aber es ist tatsächlich so, daß Deine Worte mich jetzt besser erreichen. Vielleicht war da einfach die Zeit nötig, die mich wie ein Stein abgeschliffen hat?

Ja, Andreas, ich habe Deine Nachricht erhalten. Vielleicht findest Du es jetzt hier. Schön, daß es Dir gut geht. Aber die Zeit werden wir nicht vergessen und jeder ist auf der Suche nach seinem Weg.

Ja, Gaertner, liebe dich selbst. Nur heute mal wieder ein bißchen schwierig. Das Büchlein? Liegt auf dem Sofa.

Ja, es hat sich gelohnt. Ich würde das selbe Leben noch einmal leben.

Und noch immer biege ich um die Kurve, die zweitletzte Kurve vor dem Zuhause. Noch immer schaue ich hoch, hoch zum Balkon und noch immer hoffe ich, Jürgen steht da. Ja, Herzele, war schon immer so – warum sollte das jetzt anders werden?

Los, Andrea, aus den Federn, ich geh Haken schlagen. Bist Du dabei?

Bruni
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