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Alt 16.04.2006, 15:44
Briele Briele ist offline
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Standard AW: Nicht nichts ohne dich, aber nicht dasselbe.......

16. April 2006


Lieber Papa,

heute ist Dein Todestag. Schon der vierte. Du bist oft in meinen Gedanken und häufig besuchst Du mich in meinen Träumen. Ob das bis an mein Ende so bleibt, ich Deinen und Mamas Todestag ganz bewusst erlebe, durchlebe?

Es geht mir gut, Papa. Ich hatte nach Deinem Tod nicht so lange, nie so schmerzhaft zu leiden wie bei Mamas Tod. Warum? Es ist nicht nur der eine Grund an den Du denkst und an den ich als erstes denke, die Art der Beziehung zwischen Mama und mir, nein, es sind mehrere Gründe. Ich hab viel gelernt in der Zeit nach Mamas Tod, ich konnte auf Erfahrungen zurückgreifen.

Auch hatte ich bei Dir das Gefühl nun schließt sich der Lebenskreis. Ein langes, gutes, selbstbestimmt gelebtes Leben geht zu Ende.

Aber vorher hatte ich viel Angst. Immer wieder Krankenhausaufenthalte, einige Stürze, einige Eingriffe und dann, zwei Monate vor Deinem Tod, da bist Du beinahe gestorben. Ein Herzinfarkt. Ich war gerade zu Dir gekommen. Es ging alles schnell, die Ärztin kam, gleich darauf die Rettung.

Es gab dann eine Situation, eine, wie oft in unserem Leben, in der ich Dein Verhalten einerseits unmöglich fand, andrerseits stolz auf Dich war.
Da lagst Du im Krankenzimmer, fertig, erschöpft, im Grunde genommen ziemlich angewiesen auf andere, denn seit vielen Jahren warst Du durch einen Schlaganfall teilweise behindert.
Eine Schwester beugt sich über Dich, spricht Dich sehr laut an, fragt wie es Dir geht und Du sagst, gleich besser, wenn sie aufhören so mit mir zu schreien, ich bin nur alt aber nicht taub. Sie fragt, was dürfen sie essen und Du sagst, alles, aber ich esse nur was mir schmeckt. Ich dachte oh, oh, oh und brachte am nächsten Tag eine Bonbonniere für das Schwesternzimmer. Aber da hattest Du schon alle für dich gewonnen.

Und dann kam es ganz schlimm. Du wurdest immer elender, wolltest sterben und nun passierte etwas Schreckliches: Du schicktest mich weg, sagtest, man schaut einem Menschen nicht beim Sterben zu, geh jetzt endlich. Ich war außer mir. Die Stationsschwester sagte, so etwas kommt vor, mein Kummer rührte sie an, sie weinte mit mir. Ich ging noch einmal zu Dir, Du hast die Augen aufgemacht und gesagt, jetzt bist du schon wieder da. Da hab ich mich verabschiedet und bin gegangen, aber in der Nähe geblieben.

Zum Erstaunen aller, auch Deinem eigenen, hast Du Dich nicht nur erholt, es ging Dir bald richtig gut. Du konntest wieder in Deine eigene Wohnung im Heim gehen.

Ach Papa, ich bin so froh, daß wir dann darüber sprachen. Wir konnten gut über Dein Sterben sprechen und Du wolltest mich nun dabei haben. Dabei hast Du mich so zweifelnd angesehen und ich wußte Deine Blicke zu deuten.

So zweifelnd hast Du mich auch manchmal angesehen, wenn ich zu Dir sagte, ich brauch Dich, wenn ich sagte, ein Mensch muß nicht immer etwas tun, es genügt oft, ist schön, wenn er einfach da ist, man bei ihm sein kann. Es hat Dich wohl mit Zufriedenheit erfüllt, vielleicht sogar mit Freude, aber ganz konntest Du es nie verstehen, weil Du nie so gedacht hast.

Dann fuhr ich weg, ließ Dich zurück, gut versorgt, und noch eine Umarmung, und noch ein Kuss und noch ein Blick wie Du da sitzt, eingehüllt in Zigarettenrauch.

Wie immer telefonierten wir zweimal täglich und dann warst Du plötzlich im Bett, warum, einfach müde, halt so. Nun auch Telefonate mit der Ärztin, der Schwester, meinem Bruder, meinen Freundinnen, die Dich besuchen, alle sagen, da ist nichts, ich soll mich nicht beunruhigen.

Das ging so ein paar Tage und ich sehe mich, wie ich hier an einem Sonntag in der Küche stehe, das Mittagessen koche. Plötzlich alles stehen lasse, zu Werner gehe und sage, bitte sag nichts, frag nichts, aber mach zwei Dinge für mich – geh bitte, und hol mir eine Bahnkarte für morgen und nimm mir dann ein Band auf mit Bruchs Violinkonzert Nr. 1.
Mein lieber Werner stand auf, sagte nichts, fragte nichts, machte alles und war dann, ist noch heute, froh darüber.

Ich rief Dich an und sagte, Papa, morgen komm ich und am nächsten Tag fuhr ich 1000km und dachte nur an Dich. An Dich und an mich, wie es so war mit uns. Nach mehr als 12 Stunden war ich bei Dir. Alle waren froh und erleichtert. Du strahltest mich an. Wirktest kräftig, etwas verwirrt. Eine Dame von der Hospizbewegung war bei Dir, wollte die Nacht über bleiben, ich könne ruhig heimfahren und schlafen.

Das tat ich. Rückblickend betrachtet erscheint es mir leichtsinnig. Am nächsten Morgen fuhr ich zu Dir. Hatte meine Sachen mit, einen Recorder, war eingerichtet länger mit Dir zu sein. Als ich Dich sah wußte ich, es geht zu Ende.

Du schliefst. Ich rollte den bequemen Stuhl vom Wohnzimmer zu Deinem Bett. Das ging gut, ich konnte meinen Kopf zu Deinem legen, ich hielt Deine Hand. Selten hast Du die Augen geöffnet und dann ging Dein Blick durch mich hindurch. Mehrere Male dachte ich nun setzt Dein Herz aus, aber verlässlich brachte Dein Herzschrittmacher den Takt.

Die Schwestern, Dein Lieblingspfleger, sogar die Mädchen von der Küche und der Wäscherei kamen um sich von Dir zu verabschieden. Alle hatten Tränen in den Augen, manche weinten. Es hätte dir gefallen.

Das war der einzige Tag in unserem Leben, Papa, an dem wir 10 Stunden ununterbrochen beisammen waren. Nicht nur beisammen. Es waren 10 Stunden, an denen es nichts anderes gab, keine Ablenkung, keine anderen Gedanken, es ging um das bloße SEIN, und wir hatten ständig körperlichen Kontakt. Einmal musste ich auf die Toilette und hatte Angst wegzugehen.

Am Abend bist Du aufgewacht. Du warst vollkommen klar da. Ich stand über Dich gebeugt, hatte Deine Hand in der meinen, plötzlich hast Du sie unglaublich kräftig gedrückt, geschüttelt, sahst mich an, hast Deinen Mund zu einem Kuß geformt, ich hab meine andere Hand unter Deinen Kopf gelegt, Dich geküsst und Du bist gestorben.

Du warst tot. Du warst sofort und auf der Stelle weg. So hab ich es empfunden.

Ich hab Dir zweimal das Violinkonzert vorgespielt, Dir noch einmal alles gesagt und war froh daß es nur eine Wiederholung ist, Du meine Sätze bereits gehört hast als Du noch darauf erwidern konntest.

Mein Bruder, Dein Sohn kam. Er weinte und sagte zu mir, ich bin so schrecklich froh, daß du da warst, du immer da bist. Das rechne ich ihm an, das vergesse ich nicht, das tat mir gut.

Ich ließ Dich mit ihm allein. Ging auf den Friedhof, wo Mama nicht ist, aber ihre Asche und ein Stein mit ihrem Namen. Es begann zu regnen. Als ich dort war legte ich meine Hand auf den Marmorstein und sagte, Mama, Papa ist tot. Dann begann ich zu weinen.

Als ich zurückkam lagst Du angezogen auf dem Bett. Du sahst beeindruckend aus. Das Wort „Patriarch“ kam mir in den Sinn. Du wärst zufrieden gewesen. Wir blieben noch ein paar Stunden bei Deinem Körper.

Lieber Papa, es stimmt, ich habe nach Deinem Tod nicht so schmerzhaft lange getrauert, ich hab mir leichter getan. Aber mit Deinem Tod kamen andere, neue schmerzhafte Erfahrungen: Nun war meine lange Kindheit endgültig an ihr Ende gekommen, ich habe mich immer behütet gefühlt. Nie mehr sagt jemand „meine Tochter“ und meint dabei mich.

Bereits ein paar Tage nach Deinem Tod durchfuhr mich ein anderer Gedanke siedend heiß: ich kann keinen Menschen mehr fragen. Ich habe hundert wichtige und weniger wichtige Fragen, wöchentlich kommt eine neue dazu.

Dabei haben wir die Zeit nach Mamas Tod wirklich genutzt, es war uns beiden klar nun dürfen wir nicht so weitermachen als wäre die Zeit unendlich. Wir haben viel geredet, Bänder besprochen, ich war der Meinung an alles gedacht zu haben, aber nein, es fehlt viel.

Und doch bin ich zufrieden, was heißt zufrieden, ich könnte vor Dankbarkeit in die Knie gehen, für die zärtliche, aufmerksame, liebevolle Nähe die wir hatten. Und daß wir immer gut gemeinsam lachen konnten.

In meinen Träumen seid Ihr meistens beide, Du und Mama, auch wenn einmal Du, einmal sie die Hauptrolle spielt. Sehr oft sehe ich Euch als junges Paar. Im wachen Zustand habe ich dieses Bild nie.

Es geht mir gut. Ich habe Euch gut in mir. Ich bin ein altes Kind, trotzdem finde ich es manchmal schwer mein Leben nun ohne Euch zu Ende zu leben. „Es ist nicht nichts ohne Euch, es ist aber alles weniger“.

Dieses Mal fällt Dein Todestag auf den Ostersonntag. Ich hoffe wir treffen wieder aufeinander. Bis dahin fühle ich mich behütet. Von Dir. Von Mama. Und bin und bleibe Eure Tochter.