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Alt 01.11.2005, 11:25
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AndreaS AndreaS ist offline
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Standard AW: Verzweiflung - hört das nie auf?

Liebe Anja,

ich habe zwar nicht meine Mama verloren sondern meinen geliebten Mann, aber die Situationen, die du beschreibst kenne ich auch und vor allem weiß ich, dass meine Kinder sie kennen.

Ich habe viel über Trauer gelesen und weiß daher, dass es verschiedene Phasen gibt, die man "durchleben" muss bevor eine Art "Heilung" eintritt. Meist ist es so, dass man keine der Phasen auslassen kann, jedoch die Reihenfolge unterschiedlich ist. Bei uns ist es mittlerweile ein Jahr her, aber wirklich besser ist es nicht geworden. Der Schmerz ist immer präsent, der Kloß im Hals meistens auch. Wir versuchen einen Weg durch die Trauer zu finden, der unser altes Leben nicht vergisst, d.h. wir waren immer eine sehr fröhliche Familie, haben gerne gelacht, gefeiert, sind gerne gereist. Wir versuchen durch den Tod unseres Papas und Mannes dieses Leben nicht aufzugeben, sondern es so gut es geht so weiterzuleben, wie wir es vorher geliebt haben, nicht zuletzt auch deshalb, weil wir das Gefühl hätten, sonst alles in Frage zu stellen, was vorher war. Es gelingt nicht immer, denn es fehlt einfach der wichtigste Teil, um tatsächlich Glück zu empfinden. Wie hat deine Mama Weihnachten gefeiert, was war ihr wichtig? Vielleicht gelingt es dir, diese Dinge zu übernehmen, in ihrem Namen so weiterzuführen, wie sie es gut fand. Vielleicht nimmst du dir damit ein wenig den Schrecken vor diesen schrecklichen Feiertagen, vielleicht spürst du sie, wenn du in der Küche das Essen vorbereitest, das Haus schmückst oder was auch immer ihr wichtig war, wie sie dir dabei über die Schulter blickt und Wärme im Haus verbreitet.

Die Mitmenschen kannst du bis auf ganz wenige Ausnahmen vergessen. Der Tod ist nichts, womit man etwas zu tun haben will, es trifft nur die anderen, wenn man sich nur genug davon distanziert...In einem anderen Thread wurde dieser Tage sinngemäß geschrieben: Mir ist etwas schreckliches passiert, aber ich bin nicht ansteckend.... Man sollte sich tatsächlich T-Shirts drucken lassen mit dieser Aufschrift, ob es den ein oder anderen zum Nachdenken motivieren könnte? Es werden dir nur ein paar wenige Menschen bleiben, die Verständnis für deinen noch lange andauernden Schmerz haben, die anderen wirst du von alleine aussortieren, weil sie dir mit ihrer Oberflächlichkeit nicht mehr wichtig genug sind. Dein Leben hat sich verändert, du hast dich verändert, wer da nicht mithalten kann, steht dir im Weg und tut dir nicht gut. Aber du wirst auch sehen, wie kostbar dir die wenigen Menschen sein werden, die bedingungslos bereit sind, dich auf deinem Weg zu begleiten, die mit dir weinen und sich mit dir erinnern und die nicht von dir erwarten, dass du dich einmal kurz schüttelst und zur Tagesordnung übergehst.

Was den Gang zum Friedhof betrifft, denke ich, du solltest es für dich so halten, wie es deiner Seele gut tut. Wenn du das Gefühl hast, dass du lieber nicht mehr auf den Friedhof gehen möchtest, wenn du für dich ein anderes "Ritual" entdeckst, bei dem du ganz intensiv an deine Mama denkst, so mach es. Wir gehen bspw. nie auf den Friedhof, ich kann es nicht ertragen dort zu stehen, wo ich für mich nicht empfinde, dass mein Mann ist. Er ist überall, nur nicht dort. Und was die Nachbarn betrifft, lass sie denken, was sie wollen. Sind sie für dich da? Helfen sie dir in deinem Kummer? Trösten sie dich? Ja, sie rennen vielleicht auf den Friedhof, aber im realen Leben versagen sie. Halte es so, wie es dir gut tut und glaube mir, für deine Mama zählt nur, dass du einigermaßen gut weiterleben kannst, dass du glücklich bist und nicht, ob du - wie es sich gehört - an ihrem Grab stehst.

Verrückt bist du ganz sicher nicht. Bestimmt hast du hin und wieder das Gefühl, über diesen schrecklichen Schmerz verrückt zu werden. Aber leider ist das alles normal, es geht uns allen so. Vielleicht hilft dir das Schreiben hier im Forum, ich sage immer, es ist mein Therapeut. Hier sind Menschen, die alle wissen, um was es geht. Wir alle durchleben diesen Schmerz, wir alle müssen Wege finden, in unserem "neuen Leben" klar zu kommen. Ich hoffe, dass es auch dir hilft, einfach deinen Kummer zu formulieren, einfach deine Wut rauszuschreien, deine Angst und deine Verzweiflung. Vielleicht wird das auch für dich der Weg sein, der dir hilft. Über medizinischen Beistand nachzudenken, ist immer noch Zeit, aber ich glaube noch ist es zu früh, denn der Weg durch deine Trauer hat - auch wenn das deine Mitmenschen anders sehen - eben erst begonnen.

LG
Andrea
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Που να 'σαι τώρα που κρυώνω και φοβάμαι
και δεν επέστρεψες
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