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Alt 19.10.2002, 20:04
Gast
 
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Standard Dokumentarfilm über das Tabu Sterben

Liebe Susan,

viele in diesem Forum sehen oft nur ihre eigene Situation, wenn sie in Diskussionen einsteigen. Das ist sehr verständlich, bringt einen aber nicht weiter, wenn man grundlegende Antworten auf seine Fragen sucht, denn dann sollte man eine andere Ebene einnehmen, um eine Problematik in seiner ganzen Tragweite zu begreifen. Auch du gehst die ganze Zeit von dir selber aus. Versuche doch einmal, dir vorzustellen, dass es auch Menschen gibt, die sich vielleicht noch nicht mit dem Thema Tod auseinandergesetzt haben, dies aber gerne würden oder plötzlich müssen. Ich denke durchaus, dass in einem solchen Moment die Thesen von Kübler-Ross wichtig sein können. Diese Frau hat sehr wichtige Erkenntnisse gewonnen durch ihre Erfahrungen. Warum sollen wir nicht davon profitieren. Ich gebe dir ja recht, und das habe ich auch geschrieben, wenn du sagst, dass man diese Erkenntnisse sehr sensibel und individuell auf andere Sterbende anwenden muss. Das versteht sich doch von selber. Aber hälst du dich für dermaßen unfehlbar, dass du nichts mehr dazulernen kannst? Also ich für meinen Teil muss sagen, dass ich sehr viele Fehler gemacht habe, bevor mein Vater gestorben ist. Auch ich war hin- und hergerissen zwischen "den Tod thematisieren" und "erstmal abwarten, vielleicht leugnet er es ja noch". Ich wollte unbedingt helfen, wusste aber nicht wie. Die Ansätze von Kübler-Ross haben dazu beigetragen, dass ich den Inhalt mancher Gespräche verstanden habe, dass ich besser beurteilen konnte, wie weit mein Vater im Umgang mit seinem nahenden Tod war. Das war natürlich unglaublich schwer und oft grübele ich heute noch darüber nach, was er wohl empfunden haben mag. Aber die Bücher der Kübler-Ross haben mich sensibler gemacht. Ich war eher in der Lage, auch auf Hinweise zu hören, die mein Vater zwischen den Zeilen versteckt mitgeteilt hatte.
Was mir jetzt schon mehrmals aufgefallen ist, ist das Festhalten an dem Wort "Phasen". Scheinbar ist nicht verstanden worden, worum es Kübler-Ross geht. Versuche zu verstehen, was sie wirklich meint: Der Sterbende macht in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod einen Prozess durch. Das tut jeder von uns, wenn er sich mit seinem eigenen Tod beschäftigt, er muss nicht einmal unmittelbar bedroht sein. Es macht auch jeder einen Prozess (des Lernens) durch, der sich mit einer anderen Thematik beschäftigt, beispielsweise wenn er vor einer schwierigen Entscheidung steht oder wenn die Liebesbeziehung in die Brüche geht und er sich das eingesteht. Vorrausgesetzt man verschließt vor Problemen nicht die Augen, muss man immer durch einen Lernprozess und der kann manchmal ganz schön bitter sein.

Viele Grüße. Anja
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