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Alt 10.12.2004, 07:47
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Esther Esther ist offline
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Standard Meine Mutter wird sterben und soll es nicht wissen

Liebe Verena,

nun möchte ich doch auch noch meinen Senf dazu geben. Ich habe mich hier im Speiseröhrenkrebs in der letzten Zeit nicht mehr gemeldet, weil ich erstens beruflich momentan sehr eingespannt bin und zweitens etwas Distanz brauchte. Mitgelesen habe ich aber immer.
Damit Du weisst, wieso ich plötzlich wie aus dem Nichts hier auftauche und mich in die Diskussion einmische - mein Vater hat auch Speiseröhrenkrebs. Er konnte im Sommer dieses Jahres operiert werden, und gegenwärtig geht es ihm zum Glück sehr gut. Wir bekamen die Diagnose letztes Jahr am 23. Dezember, also bald vor einem Jahr, und ich werde nie vergessen, in welcher Stimmung wir die letzte Weihnachten verbracht haben. Es hätte die letzte mit meinem Vater sein können. Ich kann Dir also sehr gut nachfühlen, wie Dir angesichts der Krankheit Deiner Mutter überhaupt und besonders im Hinblick auf die Feiertage zu Mute ist.

Es tut mir sehr, sehr leid, dass Deine Mutter auch diesen Sch.....krebs hat, das ist etwas, das ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen würde.

Sei mir bitte nicht böse, wenn ich nun sehr offen zu Dir bin, aber ich denke, irgendwelche Schleimereien helfen niemandem, und ich möchte Dir damit nur einen Gedankenanstoss geben, es ist also keineswegs böse gemeint. Ich ärgere mich aber schwarz über den Arzt, der Euch geraten hat, Deine Mutter über ihren Zustand bzw. die Lebenserwartung im Unklaren zu lassen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Deine Mutter nicht spürt, wie es um sie steht. Stell Dir mal vor, es ist tatsächlich so. Um sie zu schonen, redet aber die Familie nicht mit ihr darüber, demzufolge spricht auch sie sich nicht aus, und zwar im Gegenzug, um Euch zu schonen. Euch allen entgeht dadurch sehr viel. Ihr nehmt Euch selbst die Chance, die verbleibende Zeit und die Momente, wo es Deiner Mutter vielleicht etwas besser geht, zu geniessen, weil ja keiner von Euch sich selbst sein kann bei dem dauernden sich verstellen müssen, damit der andere ja nicht merkt, dass ich weiss und er aber nicht wissen darf, dass ich weiss (furchtbarer Satz, aber hoffentlich verständlich). Vielleicht gibt es ja so einiges, was Eure Mutter Euch gerne noch sagen würde. Vielleicht gibt es auch einiges, was Du und Deine Geschwister und Dein Vater Eurer Mutter gerne noch sagen würdet. Warum verbaut Ihr Euch das? Ich bin der Meinung, dass dieser Arzt nicht wissen kann, wie Deine Mutter reagiert, wenn sie die Wahrheit kennt. In solchen Situationen entwickeln die meisten Menschen ungeahnte Kräfte, wieso also glaubt er so sicher zu wissen, dass Deine Mutter nicht mehr kämpfen würde? Und wegen Weihnachten - mehr als verständlich, wenn Deine Mutter ihre Ruhe braucht, aber vielleicht würde sie noch so gerne gerade an Weihnachten für einen Moment darauf verzichten und hätte liebend gerne ihre Familie um sich, sogar zum Essen. Wer weiss, der Schuss könnte nämlich auch nach hinten losgehen und sie sich bereits abgeschrieben und ausgeschlossen fühlen, wenn Weihnachten plötzlich anders gefeiert wird als all die Jahre zuvor.

Ich bin heilfroh, dass mein Vater seine Prognose kannte, und die war alles andere als gut. Aber wir haben offen darüber geredet, alles gesagt, was wir zu sagen das Bedürfnis hatten, und wenn er die Operation nicht überlebt hätte, was wegen seiner Herzprobleme durchaus hätte sein können, so hätten wir die Gewissheit gehabt, dass er nichts Ungesagtes hätte mitnehmen müssen. Das tönt jetzt sehr "abgeklärt", so war es nicht, ich habe manche Nacht geheult und bin vor Angst in der Wohnung herumgetigert, aber wenigstens wusste die ganze Familie, woran sie war, und wir mussten uns nicht verstellen.

Ich hoffe sehr, dass Du mich richtig verstehst und nichts von dem was ich schreibe als Vorwurf verstehst, denn das soll es auf keinen Fall sein. Ich versuche nur, Dir zu erklären, wie ich die Situation beurteile, vielleicht kann ich Dir damit ein kleines bisschen helfen, eine Entscheidung zu treffen.

Liebe Grüsse

Esther

Sorry, ist etwas lang geworden!
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