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Alt 11.12.2015, 16:14
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northdakota northdakota ist offline
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Standard psychologische/ philosophische Fragen

Bei diesem thread hier sollen nicht die medizinischen Aspekte der Erkrankung im Vordergrund stehen, sondern mehr die menschlichen, psychologischen und philosophischen Fragen, die damit einhergehen und darüber würde ich mich gerne mit euch austauschen. Nehmt euch Zeit für diesen thread. So viel wie ihr braucht. Ich fände es schön, wenn es hier ein wenig ruhiger, stressfreier abläuft. Solche Gedanken brauchen Zeit und Ruhe.

Bei dieser Diagnose ist jeder unausweichlich mit seiner Endlichkeit plötzlich in einer Härte konfrontiert, die erstmal so überwältigen kann, dass man handlungsunfähig/ hilflos ist. Die Schwere der Krankheit, Länge und Intensität der Behandlung können uns daran hindern dass wir gleich wieder ausblenden, verdrängen und zum Alltag und unseren Automatismen, Gewohnheiten zurückkehren. Das stetige Verdrängen der Tatsache unserer Sterblichkeit lässt aber ein Gefühl immer größer werden, unsere Zeit nicht sinnvoll genug zu nutzen, wie wir es eigentlich sollten.
Ich kenne viele Menschen, durch meine Arbeit, die sich nie mit dem Tod und ihrer eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen. Wenn sie nicht selber durch Krankheit betroffen sind, sind sie es eines Tages durch andere Nahestehende und das nicht erledigte Thema ist wieder da. Ich beobachte bei diesen Menschen, dass sie oft auf irgendetwas warten, statt aktiv zu werden und muss immer an die Parabel „vor dem Gesetz“ von Kafka denken.

Zitat aus Wiikipedia:
Zitat:
Die Parabel handelt von dem Versuch eines Mannes vom Lande, in das „Gesetz“ zu gelangen. Der Mann erfährt von einem Türhüter, der davor steht, dass es möglich sei, aber nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Er wartet darauf, dass ihm der Türhüter Einlass gewährt, „Tage und Jahre“, sein ganzes Leben lang. Er versucht, den Türhüter zu bestechen. Er bittet sogar die Flöhe im Pelzkragen des Türhüters nach jahrelangem Studium derselben, ihm zu helfen. Aber alles ist vergeblich. Kurz bevor der Mann vom Lande stirbt, fragt er den Türhüter, warum in all den Jahren niemand außer ihm Einlass verlangt hat. Der Türhüter antwortet, dieser Eingang sei nur für ihn bestimmt gewesen. Er werde ihn jetzt schließen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Vor_dem_Gesetz
Das Gesetz kann konkret oder übergeordnet ausgelegt werden: als Lebensgesetz der persönlichen Selbstverwirklichung oder als göttliches Gesetz des Daseinssinns oder Heilsfindung. Der Mann vom Lande verfehlt in seiner Mutlosigkeit oder sogar Feigheit und seiner Autoritätsfurcht sowohl die selbstbestimmte Sinnsuche, wie er auch durch seine lächerlichen Bestechungsversuche offenbart, dass ihm eine wirkliche Glaubenshaltung fehlt. Diese hätte ihm Mut und Zuversicht verliehen seinen Weg durch die Tür zu gehen. Der Türhüter kann als Prüfungsinstanz begriffen werden, welche die existentielle Ernsthaftigkeit der Sinnsuche ausforscht. Er personifiziert die erschreckenden Herausforderungen des Lebensweges oder, anders interpretiert, kann er auch als Projektions-Figur für die Angst des Mannes vom Lande gesehen werden.


Eine andere Variante die eigenen wichtigen Lebensthemen zu ignorieren und auszublenden, ist das hier im Krebsforum oft zur Sprache kommende, oder auch anders sichtbar werdende "Helfersyndrom". Es ist immer leichter, sich mit den Problemen anderer zu beschäftigen, als mit den eigenen. Das ständige Ablenken von sich selber, ist zunächst entlastend, eigene Probleme sind nicht mehr sichtbar. Das Kümmern um die anderen, wird entsprechend von denen verstärkt, so dass die Gefahr besteht immer mehr in dieser Rolle festzustecken. Dem wird dann oft das idealisierende Mäntelchen der Selbstlosigkeit umgehängt. (Geben ist Seliger denn Nehmen). Das sich immer mehr verlieren, kann sich zunehmend zur Sucht "Gebraucht zu werden" verändern.
Wenn ich diese, sich ständig um andere kümmernden Menschen frage, was hat der andere Gutes für dich getan, sind sie nicht imstande, etwas Substantielles zu nennen, weichen gerne aus, weil mein hartnäckiges Fragen ihnen verdeutlicht, dass sie etwas Wichtiges nicht mehr sehen können und verloren haben. Im schlimmsten Falle werden sie sogar noch schlecht behandelt, von denen, um die sie sich selbstlos kümmern, haben aber immer sofort Ausreden, wie, er/sie tue ihnen leid, meine es nicht so. Oder sei ja die Tochter/ der Sohn/ der Mann/ der Freund/ die Freundin, die niemals im Stich gelassen werden können.

Ich beabsichtige mein Leben nach meiner Heilung in manchen Aspekten anders zu leben als vorher, weil ich das Leben nicht mehr als endlos sich dahinziehende Zeit begreifen möchte. Ich will noch mehr darauf achtgeben, Zeit nicht zu verschwenden. Natürlich habe ich dies, auch wg. meinem Alter (58 J.) nicht mehr in dem Maße getan.

Trotzdem bin ich nach der Diagnose immer wieder mit Fragen beschäftigt, ob das jetzt alles war und wie es mir damit geht. Diese Fragen habt ihr euch sicher auch gestellt und freue mich auf rege, tiefsinnige, lebendige und auch fröhlich-beschwingte Teilnahme und Austausch.

Ich beginne mit der Frage:

Welche Gedanken habt ihr seit eurer Diagnose entwickelt, die euch weiterhin immer noch beschäftigen und nicht loslassen. Über welche Veränderungen habt ihr nachgedacht? Was habt ihr diesbezüglich schon unternommen?

Ich habe heute einen schönen Sinnspruch bei einer Betroffenen aus dem Forum gelesen.

Unsere größten Ängste sind die Drachen,
die unsere tiefsten Schätze bewahren. (Rilke)

Ich habe Lust den Drachen so manchen Schatz noch zu entreißen, ihr auch?

Viele liebe Grüße an alle
Doris

Geändert von gitti2002 (02.07.2023 um 22:38 Uhr) Grund: Zitatcode und Link eingefügt
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