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Alt 06.07.2004, 15:39
Gast
 
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Standard Wechsel vom Angehörigen zum Hinterbliebenen

Guten Morgen!
Danke, dass ich hier offene Ohren (Augen) finde. Ich habe festgestellt, dass Männer doch anders trauern, als Frauen. Und es ist etwas anderes, ob man mit Menschen spricht, die noch keinen so engen Angehörigen verloren haben, oder mit denjenigen, die den Tod eines geliebten Menschen schon erlebt haben.
Ich habe meine Mutter über zwei Jahren begleitet, durch alle Chemos, Erkältungen und Grippen (die immer sehr kritisch waren), ich habe dafür gekämpft, dass sie in eine Studie für ein neues Medikament kam, als sie ihr Arzt als austherapiert bezeichnet hat. Wir haben es zusammen (meine Mutter, mein Vater, mein Mann und ich) geschafft, dass sie dieser Krankheit so lange trotzen konnte und wir noch viele schöne Monate zusammen erleben konnten.
Aber sie wurde in den letzten zwei Monaten immer schwächer, kam die Treppe nicht mehr runter, jeder Wetterwechsel wurde zu einer schlimmen Belastung, Erkältungen hielten sich hartnäckig. Und dann kam eine Erkältung, die immer schlimmer wurde. Ihr Arzt diagnostizierte nach ein paar Tagen eine Lungenentzündung - ich wusste dass sie in diesem Stadium in der Regel tödlich sind. Sie hat sich gequält, sie saß, vier ganze Nächte durch und sie hat kaum geschlafen. Am Montag bin ich dann am Mittag zu ihr gekommen (aus irgendeinem Zwang heraus MUSSTE ich um 13:00 Uhr da sein), sie saß im Bad mit ihrer Schwester (sie war für ein paar Tage zu Besuch da, zufällig) und kam aus eigener Kraft nicht mehr in ihr Bett. Ich habe den Arzt geholt und er hat sie dann ins Krankenhaus eingewiesen.
Es wurde schnell klar, dass wir am Ende unseres Kampfes waren.
Die Schwestern und Ärzte taten alles, um meiner Mutter zu helfen – auch wenn manche Gespräche auf dem Flur geführt werden mussten, es war ok, ich wollte nie weit weg von ihr sein, keiner an diesem Tag. Wir hatte ein Zimmer für uns fünf (ihre Schwester, mein Vater, mein Mann und ich – immer war ihre Familie da), einen Pfleger der immer da war, ein Bett, bekamen Essen und Getränke – wir konnten uns ganz auf meine Mutter konzentrieren.
Meine Mutter war, seit sie in diesem Zimmer war, nicht mehr richtig ansprechbar. Sie war in einem Zustand zwischen Schlaf und Halbschlaf, fantasierte manchmal, aber sie war doch ansprechbar und registrierte, wer da war. Immer wenn ich bei ihr war, wurde sie ruhig, immer wenn ich das Zimmer verließ, um mir mit meinem Mann die Beine zu vertreten, wurde sie unruhig (sagten die Schwestern). Ich hielt sie immer in meinen Armen. Ich fing an von Orten zu erzählen, wo wir waren, was wir gemeinsam erlebt haben, wie das letzte Autorennen war, dass ich sie liebe – und immer reagierte sie darauf. Und irgendwann brachte ich den Mut auf, ihr zu sagen, dass sie gehen kann. Am späten Abend sind mein Mann und ich noch mal kurz spazieren gegangen – bis ich plötzlich aus einem Impuls heraus zurück zu meiner Mutter musste. Ich nahm sie wieder in meine Arme und irgendwann fühlte ich, wie ihre Seele ihren Körper verließ, auch wenn ihr Körper noch ein paar Minuten „lebte“ – aber ihre Seele war schon weg, als die Schwestern ins Zimmer kamen, um sich um sie zu kümmern (wie auch immer sie den richtigen Moment getroffen haben). Wir konnten alle Abschied nehmen – es war ein würdevoller Moment, wenn auch sehr traurig, aber seitdem bin ich auch mit einer tiefen Freude erfüllt, nicht nur dass sie nicht mehr leiden muss – es ist eher so, dass sie mich ein Stück mitgenommen hat, als sie ging. Ich kann es nicht anders beschreiben. Vielleicht hat ja jemand von Euch ähnliches erlebt? Auch wenn ich die einzige in diesem Raum war, die das erlebt hat, weiß ich, dass ich mir nichts einbilde oder dass das was mit großer Emotionalität zu tun hatte. Jetzt bin ich erschöpft. Und mit der Erschöpfung kommt die Traurigkeit, gegen die ich mich auch nicht wehren will. Ich habe für mich die Erkenntnis gewonnen, das der Tod kein Ende, sondern ein „Anders“ ist – nur damit zu leben ist nicht so einfach.

liebe grüsse und danke für Euer Ohr
tini
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