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Alt 19.09.2012, 16:26
El_Desparecido El_Desparecido ist offline
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Standard AW: Wir sehen uns wieder in deinem Paradies

Liebe Mellanie,

mein Bruder starb vor neun Jahren bei einem Motoradunfall.
Damals hatte ich große Befürchtungen, dass meine Familie komplett daran zerbrechen würde. Wir haben es geschafft, sogar besser als ich damals zu hoffen gewagt habe.

Meine Erfahrungen mit der Trauerarbeit sind natürlich sehr subjektiv und nur auf mich und meine Familie zutreffend. Vielleicht kannst du dennoch das eine oder andere für dich annehmen und verwenden.

Die Zeit heilt alle Wunden.

Ich wünschte es wäre so. Ist es aber nicht.
Die Wunde des Verlustes ist immer noch ein Teil von mir. Und zwar ein sehr prägender Teil von mir. Sie hat sich nicht geschlossen, ich habe gelernt mit ihr zu leben, mit dem Schmerz zu leben.
Der Schmerz und ich, wir haben uns miteinander arrangiert.
Und kommen mittlerweile gut miteinander aus.
Die Zeit heilt nicht, aber lindert.

Hinter dieser fragwürdigen Weisheit steckt oft die Empfehlung von oftmals Aussenstehenden, dass irgendwann das Leben weiter gehen müsse. Die Zeit der Trauer nun vorbei sein müsse und man wieder richtig am Leben teilnehmen müsse.
Gib nichts auf solche Empfehlungen. Niemand kann nachempfinden, was du durchmachst, wie schwer der Verlust wiegt. Niemand außer jemandem, der eine ähnliche Situation durchlebt hat.
Meiner Meinung nach hört man nie auf zu trauern. Aber auch die Trauer verändert sich mit der Zeit.
Meine Eltern haben sich dem Verein verwaister Eltern angeschlossen. Die regelmäßigen Treffen und Gespräche mit Menschen mit ähnlichen Erfahrungshorizonten haben ihnen sehr geholfen.
Ich weiß nicht, ob es in Norwegen ähnliches gibt.

Auch bei ihren täglichen Besuchen am Grab meines Bruders haben meine Eltern Menschen kennengelernt, mit denen sie sich sehr intensiv über das Thema Tod, Verlust und Trauer austauschen konnten. Aus einigen dieser Kontakte entstanden sehr tiefe Freundschaften, die bis heute halten und meiner Mutter jetzt sehr viel Halt geben.

Verdrängung gehört zu jeder Trauer dazu.
Würden wir den Schmerz nicht die meiste Zeit verdrängen, würde man verrückt werden, fürchte ich.
Wichtig ist meiner Erfahrung nach, dass man die Trauer immer wieder zulässt, sich ihr mit weit geöffneten Armen entgegenwirft.
Verdrängung setzt dann automatisch wieder ein, bis zur nächsten Attacke der Trauer. Im Laufe der Jahre wird auch die Trauer erträglich und weicht schliesslich zumindest zum Teil den schönen Erinnerungen.

Gib den Erinnerungen an deinen Sohn Raum. Auch wenn sie jetzt schmerzen.
Lass ihn weiterhin Teil eurer Familie sein.
Meine Mutter zündet jeden Morgen eine Kerze am Frühstückstisch an, dort wo er früher immer saß. Das hat ihr sehr geholfen.

Ich wünsche dir ganz viel Kraft.


Carlos
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