Einzelnen Beitrag anzeigen
  #129  
Alt 08.11.2011, 08:21
simi1 simi1 ist offline
Registrierter Benutzer
 
Registriert seit: 04.11.2011
Beiträge: 551
Standard AW: Wie lange hab ich noch die Kraft

Liebe Sybille,

bitte entschuldige, dass ich hier so unvermittelt hereinplatze, aber beim Lesen deiner Gedanken, habe ich mich direkt um gut ein Jahrzehnt zurückversetzt gefühlt.
Mein Papa hatte keinen Krebs, aber Amyotrophe Lateralsklerose. Das ist eine unheilbare degenerative Erkrankung des Nervensystems. Er war komplett gelähmt, konnte nur noch die Augen öffnen und schließen und täglich mühsamer schlucken und atmen.
Es war grausam ihn zu sehen, es ging im Grunde über unsere Kräfte, ihn zu pflegen. Er hätte eine Magensonde und Heimbeatmung bekommen sollen und damit wäre dieser Zustand eventuell noch viele Monate zu erhalten gewesen. Unser eigenes Leben, unsere Familienplanung, alles alles stand still und musste sich seiner Pflege unterordnen.
Wir waren am Ende unserer Kräfte, physisch und psychisch. Und ich bin damals noch einen Schritt weiter gegangen und habe zu meinem Mann immer wieder gesagt, man könne Papa doch nicht erschlagen, aber dieser Horror dürfe doch so nicht weiter gehen. Ich sah keinen Ausweg.
Eines Abends ist er, für uns plötzlich und unvermittelt, innerhalb weniger Minuten gegangen. Stundenlang habe ich immer wieder "Gott sei Dank, Gott sei Dank" und ähnliches von mir gegeben. Auf der Beerdigung habe ich etwas geweint, wie auf jeder Beerdigung. Aber die eigentliche Trauerarbeit hat erst über ein Jahr später begonnen.
Oft habe ich mich in dieser Zeit gefragt, ob ich noch normal, gefühlskalt, eine Rabentochter bin. Mit Abstand betrachtet, denke ich, dass meine Reaktionen und Gefühle damals in Ordnung waren. Mit Abstand betrachtet, kann ich auch sehen, dass es einfach der Weg meines Papas war. Er wollte - so unvorstellbar das klingen mag - keine Minute seines Lebens missen und hätte auch auf diese Weise noch weiter gemacht. Für ihn war es sicherlich nicht schön, aber es war sein Leben, das er auch in dieser Form gerne weiterhin behalten hätte.
Er durfte relativ friedlich gehen, als die Zeit wohl gekommen war. Das wünsche ich deiner Mama von ganzem Herzen auch.
Dir all die Kraft, die du in diesen Tagen so dringend brauchst. Lass deine Gedanken ohne schlechtes Gewissen zu, rede mit den Menschen darüber, die damit umgehen können. Deine Gefühle sind nicht falsch oder verwerflich.

Einen lieben Gruß an dich
Simi

P.S.: Halber Roman - Entschuldigung!

Geändert von simi1 (08.11.2011 um 08:28 Uhr) Grund: Tippfehler